Seelische Grausamkeit
Ein Fall von seelischer Grausamkeit
Wenn ich in einem Roman erst wenige Zeilen gelesen habe, will ich schon wissen, wie er ausgeht, blättere zur letzten Seite und lese den Schluss. Darüber ärgert sich jedes Mal, wenn er mich dabei ertappt, mein Mann, das Goldstück. Bei dem Buch, das er mir letztes Jahr zu Weihnachten schenkte, wollte er meine Neugier überlisten. Unbarmherzig schnitt er aus dem Krimi meiner Lieblingsautorin – Ruth Rendell – die letzte Seite heraus, legte sie in einen Umschlag, klebte diesen zu und versteckte ihn in seinem Büro.
Zwischen Weihnachten und Neujahr schmökerte ich stundenlang, mit schadenfroher Miene von meiner besseren Hälfte beobachtet. Ich nutzte die Situation sogar schamlos aus – Strafe muss sein – indem ich einmal das Kochen unterließ: „Das Buch ist zu spannend, ich kann jetzt nicht aufhören. Nimm eine Pizza aus der Gefriertruhe und schiebe sie in die Mikrowelle.“ „Siehst du“, erwiderte mein Goldstück, diabolisch grinsend, „ich habe es dir ja immer gesagt. Ein Buch ist viel fesselnder, wenn man den Schluss nicht kennt.“ Ich machte ihm die Freude und mimte Ungeduld, schmunzelte dabei aber meinerseits stillvergnügt vor mich hin. Denn damit hatte er nicht gerechnet – und er weiß bis heute nicht – ich war längst in einen Buchladen gegangen, hatte ein Ansichtsexemplar des betreffenden Krimis aus dem Regal genommen und die letzte Seite gelesen.
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