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O la paloma blanca

Gertrud und Philipp heirateten erst mit 50. Der Hinderungsgrund für das bisher ausstehende Gelöbnis lag in Gertruds erster Ehe. Sie bestand noch wegen des Kindes, Christoph sollte den Vater nicht vermissen. Doch nun war er flügge, und die große Liebe zwischen Gertrud und Philipp konnte ihren Weg finden.

Mit 55 Jahren bat Philipp seine Frau, das Auto in die Garage zu fahren. Er wusste nicht mehr, wie es geht. Er wusste einiges nicht mehr. Nach vielen ärztlichen Untersuchungen kam die Diagnose „Alzheimer“. Zunächst Schock, dann Suche nach neuen Chancen, schließlich Fügung in das Schicksal. Egal, ob Sohn Christoph, Schwiegertochter Yvonne, Stiefmutter Therese oder die Brüder Rainer und Eckhardt – Gertrud bekam die Unterstützung, die sie für die jeweilige Situation brauchte. Das Leben wurde weitergeführt, so normal wie möglich, bis Philipp in seiner ganz persönlichen Einsamkeit versank. Gertrud leistete Übermenschliches, verbunden mit einer ganz großen Liebe und Innigkeit.

Die Familie war finanziell unabhängig und die Sommermonate von Mai bis September verbrachten alle gemeinsam regelmäßig in einem großen Haus an der spanischen Mittelmeerküste.

An einem warmen Sommerabend trafen sich einige Freunde bei Wein und Tapas unter meinem Olivenbaum, eine fröhliche und unterhaltsame Runde. Philipp saß rittlings auf dem Stuhl mit dem Rücken zum Tisch. Nichts konnte ihn bewegen, sich umzudrehen. Das Sprechen hatte er inzwischen so gut wie aufgegeben, er lebte in seiner eigenen, von uns nicht erkennbaren Welt. Als irgendjemand erwähnte, wie gemütlich es doch unter Karins Olivenbaum sei, drehte er den Kopf zur Runde und sagte laut und vernehmlich: „Ja, die mag ich.“ Das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte, ich habe sie in meinem Herzen eingeschlossen.

Vor anderthalb Jahren haben wir Philipp beerdigt. Im darauffolgenden Mai zog Gertrud wie in jedem Jahr in das spanische Ferienhaus ein. Doch nicht nur sie und die Familie wollte unter der südlichen Sonne verweilen, auch eine weiße Taube landete auf der Terrasse im 1. Stock und blieb. Sie hinterließ ihren Dreck auf weißem Marmor, man hätte sich gerne von ihr getrennt. Doch sie blieb. Die Nummer auf dem Ring um ihren Fuß ließ sich nicht identifizieren, in ganz Europa war sie nicht registriert. Sie blieb von Mai bis September. Yvonne besorgte das passende Futter und war felsenfest der Überzeugung, dass diese Taube Philipp sei. Für alle anderen kam Übersinnliches nicht in Frage. Als Ende September die Koffer gepackt wurden, blieb die Taube zurück. Was sollte man tun? Sie konnte fliegen – egal wohin.

Doch auch dieses Jahr hat einen Sommer. Und so traf der Familienclan aus dem Rheinland im Mai wieder in Spanien ein. Einen Tag später flog eine weiße Taube auf die Terrasse im 1. Stock. Und sie trägt noch immer diesen Ring mit dieser Nummer, die niemand kennt.

Autor: Feierabend-Mitglied

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