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Lange leben, nur nicht alt werden

Oh ... meine Nerven!

Frau Brück, eine 90jährige Dame aus vornehmem Hause stammend, nervt heute wieder mal. Eigentlich tut sie das jeden Tag, nur heute empfinde ich es als extrem schlimm, oder es kommt vielleicht auch daher, weil meine Nerven total blank liegen. Heute ist bereits mein fünfter Spätdienst, und zu Hause gab`s auch Probleme. Frau Brücks Ansprüche sind schon anmaßend. Zum zigsten Mal klopft sie energisch mit der Hand auf den Tisch und ruft, sie schreit lauthals: "Hallo, hallooooo, wann bekommen wir hier endlich was zu Essen? Wir sind eingesperrt und man bringt uns nichts zu essen! Ich rufe gleich die Polizei!"

Frau Moll, am Nebentisch, ruft jedesmal lautstark zurück: "Ruuuhe, ruhig, nicht so laut!" Leise sprechen können beide nicht. Beide sind sie schwerhörig. Ich versuche zu schlichten, bitte haben sie noch ein wenig Geduld, in einer Stunde gibt es Abendbrotessen. Frau Brück klopft unermüdlich weiter: "Ich bin hungrig, und ich habe schon seit gestern nichts mehr bekommen, halloo, hört mich denn hier keiner?"

Sie hört nicht eher auf zu klopfen und zu rufen, bis das Essen auf dem Tisch steht. Gott sei Dank, denke ich, endlich Ruhe! Jedoch, das Essen steht kaum vor ihrer Nase und noch bevor ich guten Appetit wünschen kann, schreit sie schon wieder: "Diesen Fraß (wohlbemerkt, Frau Brück kommt aus einem gut situierten Hause), kann ja keiner fressen! Ich will etwas anderes! Zwei Würstchen will ich“, und mich anschauend "Kannst dir auch zwei bestellen!"

Es gibt Brot und als Belag, Käse und Wurstaufschnitt. Noch während des Anreichens, schreit sie: "Ich habe noch keine Butter!" Hat sie die Butter, geht das Geschrei weiter. "Ich will noch zwei Stück Zucker, und Wurst esse ich auch nicht, ich bin gewöhnt, Marmelade zu essen."

Ihre Wünsche äußert sie prinzipiell nur im Kommandierton und gar nicht höflich. Frau Moll sitzt neben ihr, eine äußerst lärmempfindliche, sehr ruhige Frau, stößt sie sanft in die Seite: "Halten sie mal ihren Mund, das ist ja nicht zum Aushalten, mit ihrem Geplärre!" Als Getränk reichen wir, je nach Wunsch, Kaffee oder Tee. Frau Brück stößt absichtlich gegen ihre mit Tee gefüllte Tasse und brüllt: "Ich will Orangensaft, mein Doktor hat gesagt, ich soll nur Gesundes essen und trinken, damit er mich bei der nächsten Visite gestärkt antrifft!"

Herr Schons am Nebentisch, wischt bereits zum zigstenmal mit seinem Arm über den Tisch und predigt heute schon zum zigstenmal: "Heilige Mutter Gottes, heilige Mutter Gottes!" Obwohl er ganz bestimmt als junger Kerl alles andere als fromm war, beschäftigt er sich nun den ganzen Tag mit den Heiligen.

Ansonsten ist Herr Schons ein feiner Mann, außer, dass auch er mich heute nervt. Im unbewachtem Augenblick mengt er seine ganze Mahlzeit durcheinander, schmeißt alles mitsamt seinem Geschirr entweder mal eben auf den Schoß seiner Nachbarin oder gleich auf den Fußboden. Einsichtig, denn Herr Schons ist alt und senil, trotzdem ermahne ich ihn: "Von was wollen sie denn satt werden, die Nacht ist lang, und die Küche ist nachts geschlossen.“ Er grinst mich schelmisch an: "Heilige Mutter Gottes" und das Thema hat sich für ihn erledigt.

Frau Bode, eine unauffällige ruhige Bewohnerin, sitzt schon eine ganze Weile vor ihrem Teller, wo wir ihr appetitlich die vorpräparierten Brothäppchen hingestellt haben. Abwesend, wie meistens, schaut sie nur auf ihren Teller, murmelt etwas vor sich hin, stapelt ein Häppchen auf das andere, nur in den Mund, da steckt sie nichts. "Kommen sie Frau Bode, ich helfe ihnen ein bisschen, damit sie nicht hungrig ins Bett gehen müssen!" Böse schaut sie mich an, schlägt auf meine Hand: "Ich bin doch kein Baby, ich glaube, du bist verrückt!"

Im gleichen Augenblick isst sie nicht, sie verschlingt die Brote, oder das, was noch da ist, alles und in einer Riesengeschwindigkeit, fast bis zum Ersticken in sich hinein. Irgendwo hat Frau Bode Recht, zwar bin ich noch nicht verrückt, aber wenn das so weiter geht, bin ich es bestimmt in der nächsten Zeit. Nur ruhig bleiben, spreche ich mir immer wieder Mut zu.

Aber wie soll ich ruhig bleiben, sage ich zu mir, wenn ich sehe, wie auch Frau Wolf akkurat ihre Brotstücke fein säuberlich aufeinander stapelt. Einen Stapel tunkt sie in ihren Kaffee, einen anderen legt sie in ihren Kompott, zum guten Schluss kippt sie die ganze Mischung ihrer Tischnachbarin auf den Schoß.

Frau Müller, eine 91jährige Bewohnerin, stets voller Unrast und Nervosität, schafft es immer wieder, obwohl sie daran erinnert wird, doch bitte langsam zu essen, in Windeseile ihre Mahlzeiten zu verschlingen. Ihr Essen noch nicht ganz heruntergeschluckt, springt sie auf, hüpft von einem Bein auf das andere und nervt mich mit ihrer permanenten Fragerei: "Ich bin fertig, was soll ich machen? Wann gehe ich heim? Wann gehe ich ins Bett?" Ich antworte ihr jedes Mal: "Frau Müller, sie sind jetzt hier zu Hause, es gefällt ihnen doch auch hier?" "Ja, ja, es gefällt mir, aber wann gehe ich heim?" "Frau Müller, heute bleiben Sie erst mal hier, gehen nach der Fernsehsendung, heute kommt eine Musiksendung, und morgen früh sprechen wir noch einmal über das Heimgehen!" Das Stichwort "Bett", das kommt ihr wie gerufen. Zigmal fragt sie ab jetzt: "Wann gehe ich ins Bett?"

Gleich und eine Stunde, ein Tag, das bekommt sie zeitlich nicht mehr eingeordnet, also läuft sie an meinem Kittel zerrend unermüdlich hinter mir her. „Wann gehe ich ins Bett? Ich will ins Bett!" Zwischendurch rennt sie flink wie ein Wiesel zigmal zur Toilette. Vergisst aber nicht, mich vorher immer noch zu fragen: "Wo ist die Toilette?“ (das verzeihe ich ihr heute nicht so ganz) „Sie wissen doch den Weg, ich habe es schon hundertmal gesagt!“
Trotzt ihres hohen Alters ist sie mobil und voller Energie, hält uns den ganzen Tag auf Trapp.

Erst nachdem sie im Bett liegt, denke ich: "Jetzt gibt`s Ruhe, kann endlich meine Schreibarbeit erledigen, wenn da nicht unsere Oma wäre (wir nennen sie Oma, weil sie es ausdrücklich so wollte), sie ruft und ruft ausdauernd: "Fräulein, Fräulein, ich habe Hunger, ich habe noch nichts zu essen bekommen. Meine Schwester (gemeint war ihre Schwiegertochter) hat mir Reibekuchen mitgebracht, und die möchte ich jetzt essen.“ Die Reibekuchen waren in Wirklichkeit eingepackte trockene Plätzchen. Nach deren Verzehr lagen die harten, kratzigen Krümel in ihrem Bett.

Der dadurch verursachte Juckreiz wird sie veranlasst haben, dauernd nach uns zu rufen. "Fräulein, Fräulein," rief sie solange, bis ich mich nach ihrem Wunsch erkundigte. "Fräulein, ich will sterben! Fräulein wann sterbe ich endlich?" "Frau Ehrhard, es ist nichts schlimmes passiert, es geht ihnen gut, es sind nur die Krümel in ihrem Bett, die sie so stören, deswegen brauchen sie noch nicht zu sterben.“

Am Ende meiner Nerven hätte ich am liebsten gesagt: Warten sie damit, bis ich Zeit habe, bloß nur jetzt nicht! "Wissen sie was Frau Ehrhard, ich hebe sie jetzt mal aus dem Bett, setzte sie in ihren Rollstuhl, und wenn ihr Bett krümelfrei und in Ordnung ist, dann geht es ihnen wieder gut!" "Aber Fräulein, Fräulein, seien sie nur vorsichtig, lassen sie mich nicht fallen, nicht dass ich danach tot bin." So war unsere Omi, Sterben und der Tod, das war noch lange nicht das gleiche!

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