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Kurzgeschichte: Ingrid erzählt von Träumerle

Es war einmal ein wunderhübsches kleines Hirschkälbchen, das wurde von seinen Eltern nur ‚Träumerle’ gerufen, weil es mit seinen großen sanften Augen träumend und staunend die Welt um sich betrachtete. Es gab so viel zu entdecken.

Da wiegten sich die Gräser und Farne rings um sein Bett. Die Mutter hatte es im dichten Gebüsch liebevoll für ihr Baby bereitet. Leise wisperten und raunten die Halme des dichten hohen Grases. Sie verneigten sich vor Träumerle.

Nachts funkelten eine goldene Scheibe und viele Lichter am Himmel. Am Tage kamen andere Tiere, um ihm „Guten Tag“ zu sagen. Ein Tier webte ihm zur Freude einen kleinen Teppich zwischen nahen Zweigen. Am Morgen, nach der Kühle der Nacht, glitzerte er in allen Farben. Ein anderes Tier trug das eigene Haus auf dem Rücken. Als Träumerle es mit der Nase anstupste, verschwand es blitzschnell darin.

„Warum machst du das und wer bist du?“, fragte das Hirschkälbchen.

„Man nennt mich Schnecke, weil ich nur langsam krieche. Ich bin sehr ängstlich“, flüsterte das putzige kleine Ding. Es streckte vorsichtig seine Fühler aus dem Haus und lachte Träumerle an.

Er fragte auch seine Eltern:

„Warum bewegen sich die Gräser?“
„Das macht der Wind.“

„Was funkelt abends am Himmel?“
„Das sind der Mond und die Sterne.“

„Was glitzert hier zwischen den Zweigen?“
„Das ist das Netz einer Spinne“, sprach die Mutter. „Du musst vorsichtig sein, es ist sehr zart. Zerstöre es nicht!“

So sah und lernte Träumerle jeden Tag etwas Neues. Immer wieder verlangte er eine Erklärung. „Warum“ war ein Wort, mit dem er fast jeden Satz begann.

Eines Nachmittags sprach die Mutter zu Träumerle: „Heute gehen wir auf die große Wiese. Wir treffen die Verwandten und Nachbarskinder. Mit denen kannst du spielen.“ Dort angekommen, sah Träumerle viele Artgenossen übermütig Sprünge übend herumtoben. Die Eltern bewachten vom Waldrand das ausgelassene Spiel. Träumerle stürmte zu den anderen Kindern und rannte mit ihnen um die Wette. Sie spielten gemeinsam “Fangen“. Er versuchte, ob er einen Schmetterling einholen könnte, der dicht vor seiner Nase hin- und herflatterte.

„Warum kann ich nicht fliegen?“, fragte er seine Eltern.
„Du besitzt keine Flügel.“
„Dann möchte ich, dass sie mir wachsen.“
Seine Eltern lachten.
„Du hast vier Beine, einem Hirsch wachsen keine Flügel.“

Von nun an dehnte Träumerle seine Entdeckungsreisen um sein Nachtlager aus. „Ich gehe spielen“, rief er seiner Mutter zu. Lauf nicht zu weit fort“, warnte die Mutter. „Der Wald ist gefährlich, hier gibt es Menschen. Manche sind böse.“

„Warum sind Menschen böse, ich tue ihnen doch nichts?“
Darauf wusste die Mutter keine Antwort.

Träumerle stob bereits davon. Er hatte den Ruf der Waldtaube gehört und wollte wissen, ob sie ein neuer Spielgefährte sein könne. Er ließ die Taube nicht aus den Augen und achtete nicht darauf, wohin er trat.

Ein fürchterlicher Schlag traf Träumerles vordere Beine. Er schrie vor Schmerz laut nach den Eltern und konnte sich nicht mehr bewegen. Die Eltern hatten seinen Schrei und das Wimmern gehört. Mit großen Sprüngen kamen sie herbeigeeilt und sahen, dass ihr Sohn in dem rostigen Fangeisen eines bösen Menschen gefangen war.

„Lieg ganz still, ich helfe dir“, versprach der Vater. Er stemmte seine starken Hufe auf das Eisen und hebelte mit seinem Geweih das Fangeisen etwas auf. So konnte Träumerles Mutter ihn vorsichtig aus der Umklammerung befreien. Das Aufstehen gelang ihm nicht, seine beiden Beine waren gebrochen. Aus den Wunden blutete es. Vor Schmerzen liefen ihm die Tränen über's Gesicht. Mit Hilfe der Eltern kroch er mühevoll zu seinem Bett.

Die Eltern erkannten, sie brauchten Hilfe. Sonst würde ihr Sohn niemals wieder das Gehen lernen, es wäre sein Tod. Die Waldtaube wusste Rat. „Hier im Wald gibt es ein Dorf mit Wichtelmännchen. Die kennen viele Kräuter. Sie helfen bestimmt. Das Dorf liegt unter den Wurzeln einer großen Eiche.“

Die Mutter kannte diesen Baum. So sprang sie zu dem Dorf und rief die Wichtel. Sie erzählte von Träumerle und seinen Verletzungen. Alle Wichtelmännchen halfen. Sie sammelten Kräuter und Blätter, zerrieben sie und kochten einen Brei daraus. Den strichen sie täglich auf Träumerles Wunden, damit sie schneller heilten und die gebrochenen Knochen wieder zusammenwuchsen. Viele Wochen verbrachte Träumerle liegend in seinem Bett, ehe er das erste Mal wieder aufstehen durfte.

Es tat schrecklich weh. Ein Bein war krumm, das andere schlenkerte lose herum. Wollte er darauf stehen, knickte es zusammen und er fiel hin. Langsam lernte er, mühsam humpelnd, auf drei Beinen zu gehen. Mit dem Springen und Jagen aber war es vorbei.

Trotzdem zog es ihn voller Sehnsucht zur großen Wiese und den Nachbarskindern. Als er dort ankam, hatten seine Freunde gerade einen neuen Wettkampf entdeckt. Freundschaftlich boxten sie einander mit den Köpfen und erprobten ihre Geschicklichkeit und Kraft.

Als sie ihn sahen, war kein Mitleid in ihren Augen. „Hinkebein, Hinkebein“, spotteten sie grausam. „Was willst du hier? Geh fort, wir wollen dich nicht. Du störst unser Spiel!“, riefen sie und lachten ihn aus.

Traurig blieb Träumerle am Waldrand stehen und fragte unter Tränen seinen Vater: „Warum sind alle so böse zu mir, ich habe doch keinem etwas getan? Warum werde ich so gestraft?“

Der Vater betrachtete ihn mitfühlend, wischte ihm sanft die Tränen fort und erklärte: „Mein Sohn, was du erfahren musstest, ist keine Strafe. Es ist eine Herausforderung. Alle Wesen leben auf dieser Erde, weil sie eine Aufgabe haben. Du wirst selbst erkennen müssen, welche Aufgabe du zu erfüllen hast. Du allein musst entscheiden, wie dein Leben weitergehen soll. Das liegt jetzt bei dir.“

Träumerle dachte über die Worte des Vaters nach und nahm sich ganz fest vor, seine Beine so zu trainieren, dass er künftig ohne zu humpeln auch mit drei Beinen laufen könnte. Er suchte sich einen steinigen Weg, auf dem viele kleine und große Felsbrocken lagen. Fühlte er sich unbeobachtet, ging er nicht um die Steine herum. Er übte sich darin, über sie hinwegzuspringen. Das tat anfangs sehr weh. Wie oft er dabei fiel? Er hat es nicht gezählt. Doch von Tag zu Tag wurde er sicherer, war es weniger schmerzhaft. Die Muskeln wurden wieder kräftiger. Das Schlenkerbein, wie Träumerle es nannte, wollte ihn nicht tragen. Er lernte jedoch, auch auf drei Beinen sicher und ohne Humpeln zu gehen.

Die Eltern machten sich große Sorgen um ihren Sohn. Sollten die Menschen das kranke Träumerle entdecken, würden sie es jagen und töten. Sie beschlossen, aus dieser Gegend fortzuziehen. Von der Waldtaube hatten sie gehört, dass im Tal hinter dem Berg keine Menschen wohnten.

„Komm Träumerle“, ermunterte ihn die Mutter, „wir gehen fort über den Berg.“

Das schaffe ich nicht“, klagte das Kälbchen. „Lasst mich hier, geht allein, ich kann das nicht. Wenn ich den Berg ansehe, weiß ich, für den Weg reichen meine Kräfte nicht.“

Doch die Mutter erklärte: „Schau nicht auf die Höhe des Berges, sondern setze deine Beine langsam, achte immer nur auf den Schritt, den du gehen willst. Hast du diesen gut gemacht, kommt der nächste. Am Abend, wenn wir ausruhen, schau zurück. Dann wirst du erkennen, wie viel du schon geschafft hast. Wir bleiben dicht bei dir und stützen dich, wenn du müde oder verzagt bist.“

Diese Worte stärkten Träumerles Mut. So machten sie sich gemeinsam auf den beschwerlichen Weg. Er war steinig. Träumerle hatte jedoch gelernt, dass Steine kein Hindernis sein müssen. Er sprang über sie hinweg. Die Eltern bewunderten ihren Sohn.

„Wie hast du es gelernt, die Steine so sicher zu überspringen?“
„Ich habe es so lange geübt, bis ich es konnte.“

Voller Stolz betrachteten sie ihren Sohn. Nun waren sie ganz sicher, ihr Träumerle würde das Leben meistern.

Auch Träumerle erlebte eine neue Erfahrung. Er stellte fest, dass seine Mutter Recht hatte. Es ging, wie sie gesagt hatte. Vorsichtig setzte er ein Vorderbein Schritt für Schritt und schaute nicht auf den Gipfel, das hätte ihm allen Mut genommen. Dafür drehte er sich hin und wieder heimlich um und sah zurück. Er war voller Staunen über die Länge des Weges, den er ganz allein aus eigener Kraft bewältigt hatte.

So erreichte er – nur langsam – mit seinen Eltern den Gipfel des Berges. Der Ausblick war schön, Träumerle war sprachlos. Die Landschaft, die sich vor seinen Augen ausbreitete, sah so friedlich aus. Sie kam ihm vor wie das Paradies. Dort wollte er künftig leben. Der sanft geschwungene Weg in das vor ihm liegende Tal schien leicht. Dies spornte ihn an, noch einmal alle seine Kräfte zu sammeln.

Die Jahre vergingen. Inzwischen ist Träumerle älter geworden. Er ist zu einem prächtigen Hirsch herangewachsen. Auf seinem stolz erhobenen Haupt trägt er ein mächtiges Geweih und weiß, was seine Aufgabe ist.

Kranken und verletzten Tieren erzählt er, wie er es geschafft hat, seine Behinderung zu überwinden. Er macht ihnen Mut, auf die eigene Stärke zu vertrauen und sagt ihnen lächelnd:

„Ein Hinkebein ist ein Vorteil, denn ich habe gelernt, dass entscheidend nur der Wille ist, nach jedem Hinfallen wieder aufzustehen.“

Autor: Zwillingsjungfrau

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