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Holzkaestchen

Schlüssel zur Vergangenheit

Es ist Sonntag, das Wetter ist schön, und viele dachten wie ich. So treffen wir uns auf dem Flohmarkt. Träge lasse ich mich durch die Gänge treiben. Eine Kaffeekanne, die so geschmacklos ist, das sie schon wieder schön aussieht, nehme ich in die Hand, und schaue sie mir lange an. Vorsichtig gebe ich sie zurück. Lieber nicht.

Sie passt nicht in meine Wohnung, egal wo ich sie hinstellen würde. „Bei diesem Wetter kaufen die Leute nichts,“ höre ich die Verkäuferin sagen. Ich nicke nur. Da sehe ich am Ende der Reihe einen alten Mann. Er trägt bei der Hitze einen brauen Anzug, der schon so alt wie sein Besitzer zu sein scheint. Sein Gesicht, Hals, und seine Hände haben die gleichen Farben des Stoffes, und sind so zerfurcht wie eine Reliefkarte der Alpen. Aus einer Hosentasche holt er ein großes, weißes Taschentuch, das noch zusammengelegt ist. Er schlägt es aus, wischt sich damit die Schweißtropfen von der Stirn und faltet er es wieder sorgfältig zusammen, bevor er es wieder einsteckt. „Heute ist es sehr warm, und ich habe meinen Hut vergessen,“ sagt er lächelt zu mir. Dabei werden die Falten in seinem Gesicht noch tiefer. Ich frage ihn, warum er seine Jacke nicht auszieht. „Das mache ich nie, wenn ich unterwegs bin. Wie sieht das auch aus.“ Kopfschüttelnd schaut er mich an. Der Kragen des einstmals weißen Hemdes zeigt mit den Spitzen nach oben. Der obere Knopf ist geöffnet, und die Haut seines Halses liegt in kleinen senkrechten Fältchen.

Vor ihm steht ein kleiner Tisch, der übersäht von Gerümpel ist. „Jedes Teil das hier liegt, hat seine Geschichte. Sieh mal diese Stiefel,“ sagt er mit tiefer Stimme, die nicht zu ihm passt. „Ich tauschte sie nach dem Krieg für ein Paket Butter ein und trug sie immer. Wenn ich zum Tanzen ging, rieb ich sie mit Lederfett ein, und bürstete sie so lange bis sie tiefschwarz glänzten.“ Mir fällt mein Großvater ein. Auch er besaß Stiefel mit diesem breiten Schaft. Ich sah ihm oft zu, wenn er ohne Socken ein Tuch um die Füße wickelte. Er tat es sorgfältig und mit Bedacht. Jede noch so kleine Falte drückt mich, erzählte er mir. Jetzt sehen sie traurig grau aus, und die Schäfte hängen zur Seite, wie die langen Ohren der Kaninchen. Daneben liegt eine Puppe mit einem Arm. Die roten Haare sind verfilzt. Ich hebe sie ein wenig an, und finde ein Loch auf dem Kopf. So eine Puppe hatte ich auch. Ich schnitt ihr die langen, roten Locken ab, weil sie meinen so ähnlich waren. Man ärgerte mich oft damit, das man mir nachrief: „Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Genossen.“ Und daran war diese Puppe schuld, dachte ich mir. Dann schleuderte ich sie so lange am Arm, bis er ausriss. Die Puppe flog gegen die Wand. Daher kam das Loch. Ich schaue sie mir genau an und streiche wie zur Entschuldigung mit einen Finger über ihren Bauch. Sie scheint mir zuzublinzeln.

„Sieh hier, in der runden Zinkwanne badete immer meine kleine Enkeltochter. Sie liebte das Wasser. Sogar in dem Wassertrog für die Hühner saß sie,“ erzählt der alte Mann. Er kramt in der Wanne, und holt einen kleinen Löffel hervor, der schwarz angelaufen ist, und gibt ihn mir. „Sieh, hier steht ihr Name.“ Das I und das W sind in Schnörkeln eingraviert. Erschrocken gebe ich ihn zurück. Aber unbeirrt erzählt er weiter. „Mit diesem Löffel füllte sie Sand in ihre Schürzentasche, dann Wasser, und zum Schluss legte sie kleine Blumen darüber, oder beerdigte kleine, tote Tiere darin.“ Jetzt holt er einen kleinen Fetzen geblümten Stoffs hervor. Die Farben sind verblasst, und das Muster ist nur noch zu erahnen. „Meine Frau nähte für unser Kind ein Kleid. Dazu eine weiße Bluse und eine Schürze aus einem alten, mürben Bettlaken. Es war alles so klein wie für eine Puppe, aber es passte ihr. Sie stieg auf einen Wagen, auf dem ich die Ferkel geladen hatte. Da hörte ich ein lautes Quieken, und dann einen Schrei von meinem Kind. Es war von dem Wagen gefallen, und das Kleidchen war zerrissen. Ihr Bein blutete, aber sie lächelte mich an, und erzählte, dass ein Ferkel sie gebissen hat, und sie es ins Ohr zurück biss.“

Der Alte seufzt tief, und schaut mich mit wissenden Augen an. Er hält mir seine Hand entgegen und öffnet sie langsam. In ihr liegt ein kleiner Zahn. „Sie verlor ihn, als sie in einen Apfel biss. Ich baute ihr ein kleines Kästchen dafür, und meine Frau legte ein Stückchen rotes Papier hinein. Wir trösteten sie damit, dass es ein Wunderzahn sei, der sie schützen würde. Sie trug ihn immer bei sich. Doch eines Tages vergaß sie ihn, und der Hofhund biss sie. Sie weinte laut, drehte sich blitzschnell um, und biss ihn ins Ohr. Seid der Zeit waren die beiden Freunde. Oft brachte sie ihm heimlich ein Stückchen Wurst.“ Wieder sucht er in der Wanne und legt einen kleinen Spitzenkragen auf den Tisch. Vorsichtig glättet er ihn mit den Händen. „Ist er nicht schön? Als unser Kind in die Schule kam, nähte ihn meine Frau an das neue Kleid. Ich weiß es noch, es hatte große, blaue Knöpfe.“ „Nein, sie waren klein wie Erbsen und rot,“ widerspreche ich. Jetzt holt der alte Mann seine Brille aus seiner Jackentasche, setzt sie umständlich auf und mustert mich. Auch ich schaue ihn mir genau an, aber er ist mir fremd.

„Woher haben sie die Dinge aus meiner Vergangenheit,“ frage ich ihn. Er reicht mir ein Holzkästchen, das so groß wie eine hohe Zigarrenkiste ist. Auf ihm ist eine kleine, weiße Rose gemalt. „Hier drin sind deine Erinnerungen. Schließe das Kästchen nur auf, wenn du darin verweilen willst.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll, nehme es vorsichtig in die Hand und gehe. „Du hast den Schlüssel vergessen,“ ruft der Alte hinter mir her. Langsam drehe ich mich um. Der alte Mann ist nicht zu sehen. Die Stiefel, die Puppe, und die Wanne sind verschwunden. Nur der Tisch steht noch da, und auf ihm liegt ein kleiner Schlüssel, der wunderschön gearbeitet ist. Vor mir steht das Kästchen. Ab und zu drehe ich vorsichtig den kleinen Schlüssel. Ich habe jedes mal Angst, dass er abbrechen kann, und meine Erinnerungen gefangen sind.

Autor: aesra

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