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Die Verkleidung

Der etwas andere Hotelgast

Eines Tages wurde für einen Herrn K. ein Einzelzimmer für eine Nacht in meinem Gästehaus gebucht. Unter der Woche war mein Haus stets mit Geschäftsreisenden belegt. Nachmittags um 14 Uhr kam mein Zimmermädchen aufgelöst zu mir und sagte: "Frau Beer der Herr K. ist bereits angereist, aber aus seinem Zimmer kam eine Frau heraus, die jetzt in der Gästestube einen Kaffee bestellt hat und die Chefin sprechen möchte. Ich weiß aber ganz genau, dass keine Frau das Haus betreten hat."

Ich begab mich in die Gaststube und begrüßte eine sehr attraktive, stattliche Dame. Zu meinem Erstaunen stellte sich die Dame als „Herr K.“ vor. Zuerst glaubte ich an einen Scherz. Doch die sehr gepflegte und höfliche Dame teilte mir mit, dass sie bewusst mein kleines etwas abgelegenes Haus ausgesucht hätte. Er (sie) sei in Bankgeschäften im Außendienst tätig und seit einigen Jahren verspüre er den Drang, seine Freizeit als Frau auszuleben. Sollte ich das anstößig finden, dann solle ich das sagen und er würde wieder abreisen. In großen Hotels sei ihm schon des öfteren die Tür gewiesen worden.

Ich war in diesem Moment so kopflos und wusste nicht wie ich nun reagieren sollte. Doch in diesem Augenblick kam mir in den Sinn, dass meine Stammgäste, von denen noch einige heute Abend anreisten, sich immer beklagten, dass in meinem Haus so wenig Frauen übernachteten. So wollte ich mir aus dieser Sache einen Scherz machen. Ich sagte Herrn K., dass jeder sein eigenes Leben führen kann und ich ihn gern bei mir aufnehme. Herr K. war glücklich über meine Entscheidung. Wir plauderten noch einige Zeit. Er erzählte mir, dass er seit 25 Jahren verheiratet sei, zwei erwachsene Kinder habe und seine Familie und auch seine Geschäftsleitung niemals etwas davon erfahren dürften. Den Koffer mit den Kleidern hätte er immer im Kofferraum eingeschlossen.

Am Abend reisten die übrigen Gäste an. Frohen Mutes verkündigte ich jedem der Herren, dass wir heute eine nette Dame in unserem Kreis hätten. Alle waren sehr gespannt und betraten früher als sonst voller Erwartung den Gästeraum, wo sie meistens ihre täglichen Schreibarbeiten bei einer Brotzeit verrichteten. Ebenfalls voller Erwartung platzierte sich Frau K. an einem Tisch. Ihr Ziel war es, herauszufinden, wie sie auf Männer wirkt und ob sie als Frau anerkannt wird. Einer meiner Gäste kam zu mir in die Küche und sagte, dass sei aber eine ziemlich stattliche Frau, nicht sein Geschmack und viel zu stark geschminkt. Ja, sagte ich, nun biete ich euch schon mal ein weibliches Wesen und ihr seit nicht zufrieden. Seit doch bitte nett zur ihr. So gegen 21 Uhr verabschiedete ich mich wie stets von meinen Gästen, die oft noch länger plaudernd zusammen saßen oder Karten spielten.

Ich war auf den nächsten Morgen sehr gespannt. Denn Frau K. saß mitten unter den Herren, als ich das Haus verließ. Um 7 Uhr servierte ich das Frühstück. Frau K. erschien als Herr K. in einem dunklen Nadelstreifenanzug als gepflegte männliche Erscheinung. Ich war platt und schmunzelte. Es wurde gefrühstückt, bezahlt und jeder verließ anschließend mein Haus. Ein Herr kam nach dem Frühstück zu mir in die Küche und fragte, wo denn die nette Dame von gestern Abend sei, ob sie schon ihr Frühstück eingenommen hätte? Ich erwiderte darauf, dass er gerade mit dieser Dame zusammen an einem Tisch gefrühstückt habe. Die Dame von gestern Abend sei nämlich ein Mann: Diesen Gast habe ich nie wieder gesehen.

Beim nächsten Besuch der damals anwesenden Gäste wurde ausgiebig über den damaligen Abend geplaudert. Dabei erfuhr ich, dass der Herr, der mich am Morgen nach der Dame fragte, sehr angetan von ihr war und sie beide die letzten waren, die ihre Zimmer aufgesucht hatten. Frau K. beziehungsweise Herr K. kam noch einmal in mein Haus. Aber ich bat sie (ihn), doch in Zukunft sich ein anderes Quartier zu nehmen, da für diese Geschichte mein Haus wohl zu klein sei. Da viele der Gäste regelmäßig wiederkämen, hätte das erneute Aufeinandertreffen für alle sehr peinlich sein können. Herr K. zeigte dafür viel Verständnis und wir trennten uns in gutem Einvernehmen. Ich wünschte ihm viel Glück für seine Zukunft und dass seine Familie nie darunter leiden müsse.

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