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Die Geschichte einer Sterbebegleitung

Die Geschichte einer Sterbebegleitung

Josef liegt im Sterbezimmer der Geschäftsstelle der Sterbehilfeorganisation. Er wurde vor einer halben Stunde von Sanitätern auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin aus dem Alters- und Pflegeheim seines Wohnkantons mit einem Krankentransport hierher gebracht. Sein Sterbewunsch wurde in seinem Altersheim nicht akzeptiert und so blieb ihm keine andere Wahl.

"Ich habe mit den Sanitätern auf der Herfahrt eine lebhafte Diskussion über meinen geplanten Freitod gehabt. Diese konnten meinen Entscheid anfänglich nicht verstehen und versuchten mich umzustimmen. Dies ist aus ihrer Sicht völlig verständlich, weil sie ja aus berufsethischen Gründen Leben retten, bewahren und erhalten wollen. Als ich ihnen erzählte, dass ich aus dem Altersheim infolge meines Krebsleidens schon viermal ins Spital und wieder zurück gebracht wurde, dass ich vor lauter Schmerzen und einer Unzahl körperlicher Gebrechen völlig auf andere Menschen angewiesen bin und dass mich der Onkologe im Spital darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich aufgrund meiner Metastasen nur noch zwei bis drei Wochen Lebenserwartung habe und er mich darum zum Sterben wieder ins Altersheim überstellen lassen wollte, da begannen die Berufssanitäter mich zu verstehen und sie versuchten, meinen Freitodentscheid zu akzeptieren. Sie waren einfühlsam, umsorgten mich auf dem Transport und waren wie echte Freunde zu mir.

Ich spürte ihre Anteilnahme und bin ihnen dafür dankbar. Jetzt liege ich hier und ich freue mich, meinen Körper, der mir nur noch unsägliches Leiden verursacht, verlassen zu können. Wissen Sie, ich bin seit meiner Zeit als Techniker auf Montage und überall auf dieser Welt zuhause. Als bekennender Buddhist glaube ich fest daran, dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Mein Abschied, der nun in nächster Nähe ist, macht mich glücklich und ich freue mich auf ein neues Leben irgendwo und irgendwann in diesem Universum. Das Leiden hier ist absolut kein Gewinn mehr für mich und ich möchte jetzt gerne das Sterbemittel zu mir nehmen. Ich danke Ihnen, dass sie mich unterstützen, würdevoll sterben zu können."

Josef hat aufgrund seiner Chemotherapien ein implantierbares Kathetersystem eingesetzt, welches einen venösen Gefässzugang zur Infusionstherapie ermöglicht. Weil Josef nichts mehr über den Magen zu sich nehmen kann, sondern schon seit geraumer Zeit durch Infusionen ernährt wird, kommt die Einnahme des Sterbemittels oral für ihn nicht infrage. Eine der Fachfrauen für Infusionsbegleitung hat alles so vorbereitet, dass Josef nur noch am Infusionsrädchen drehen muss, damit das Sterbemittel in seinen Körper eintreten kann. Bevor Josef diese letzte Handlung in seiner klaren Entschlossenheit selbständig vollzieht, machen wir Freitodbegleiter ihn nochmals darauf aufmerksam, dass er den Zeitpunkt selber wählen müsse, wenn er sich über seinen Sterbeentscheid absolut im Klaren sei und dass er jederzeit vor dem Einleiten des Sterbemittels in seinen Körper diese Handlung abbrechen könne.

Josef schaut uns Anwesende der Reihe nach an, lächelt, führt seine Hand wortlos ans Infusionsrad und führt damit eigenverantwortlich das Sterbemittel in seinen von der langen Krebskrankheit deutlich gezeichneten Körper ein. Er hat uns vor dem selbstbestimmten Einleiten seines Sterbens noch gebeten, das Sterbezimmer abzudunkeln und seine Wunschmusik, das Klavierkonzert von Schumann, leise abspielen zu lassen. Bald schläft er ein und wir haben die Gewissheit, dass er innerhalb weniger Minuten aufhören wird zu leben und zu leiden. Diese Form des gewaltlosen Freitodes – wer es als Suizid bezeichnen möchte, soll dies tun – beeindruckt mich sehr stark, weil ich keinerlei Aggressionen darin wahrnehme. In all den von mir assistierten Freitodbegleitungen spürte ich eine Zufriedenheit der Sterbewilligen, eine große Dankbarkeit über das Ende des Leidens und das Glück über die Chance, inmitten von mitfühlenden Verwandten, Freunden und verständnisvollen Mitmenschen den Abschied aus dem Leben gestalten zu können. Ich wünsche auch für mich in einer ähnlichen Abschiedssituation aus dem irdischen Leben diese Alternative in Anspruch nehmen zu können, weil ich sie als würdevoll bis zum letzten Atemzug erlebe.
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