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Ingrids Ausflug in die Welt der Kurzgeschichten

Seit unendlichen Zeiten war der Weihnachtsmann unterwegs. Treppauf, treppab hastete er durch die Straßen, schleppte riesige Säcke mit Geschenken und machte Kinder und Erwachsene glücklich. Für seinen Auftrag wurde ihm zwar als Dienstfahrzeug ein Renntierschlitten zur Verfügung gestellt, doch Geld für Auslagen und Spesen wurde ihm bisher verweigert.

„Wer denkt an mich, schenkt mir etwas, fragt nach meinen Wünschen?“ rief er laut gen Himmel. Es kam keine Antwort.
Damit ist Schluss, entschied sich der Weihnachtsmann. Er versuchte es noch einmal. Den Blick nach oben gerichtet, sprach er mit sehr ernster Stimme: „Ich habe Hunger, ich möchte jetzt einen der in den Geschäften oder aus meinem Sack so herrlich duftenden Christstollen essen!“
„Die dir treuhänderisch überlassenen Süßigkeiten und Leckereien sind für die Kinder, die rührst du mir nicht an“ dröhnte es mit Donnergrollen vom Boss herab.

So musste der Weihnachtsmann sich eben in einem Kaufhaus ‚versorgen’. Um möglichst unerkannt zu bleiben, entschied er sich für eine Verkleidung. Mit Sonnenbrille und hochhackigen Damenschuhen versuchte er, in einer Einkaufspassage der deutschen Großstadt K. einen Christstollen zu klauen. Das Wachpersonal entdeckte den Ladendieb.

„He, Sie, kommen sie mal mit. Was haben Sie da unter ihrem roten Mantel versteckt?“
Der Wachmann packte den erschrockenen Weihnachtsmann am Arm und zerrte ihn ins Büro. Er nahm den Sack mit den Geschenken und den nicht bezahlten Christstollen, packte alles auf den Schreibtisch und fragte hämisch:
„Wollten ihn wohl klauen, was? Warum bedienen Sie sich nicht aus ihrem Sack, darin sind doch genügend Köstlichkeiten vorhanden? Warum stehlen Sie gerade hier?
Wer sind Sie überhaupt? Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Jetzt treiben sich viele mit Ihrer Verkleidung hier rum?“
Der Weihnachtsmann war trotzig, er schwieg.
„Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis.“
Der Weihnachtsmann schwieg.

Der Wachmann merkte, dass er mit diesem verstockten Typ so nicht weiterkam. Er rief die Polizei. Diese machte kurzen Prozess. Sie packten den Weihnachtsmann am Arm und schoben ihn in die grüne Minna. Im Protokoll war später zu lesen: „Unbekannte Person ohne festen Wohnort. Vermutlich Ausländer unbekannter Herkunft. Festnahme wegen Ladendiebstahl“. Er kam ins Gefängnis.

Reuevoll grübelte der Weihnachtsmann in der Finsternis der Zelle über sein Leben nach. Zerknirscht murmelte er in seinen Bart: „Wie konnte ich nur aus einer Affekthandlung heraus so etwas tun? Meine Stellung werde ich verlieren. Was wird der Boss sagen?“
Murrend fügte er hinzu: „In den letzten 400 Jahren bin ich aber auch gar zu selbstverständlich eingesetzt worden. Wer hat je Verständnis gezeigt für meine vielen Aufträge, die auch noch unter Zeitdruck ausgeführt werden mussten? Keiner, der Chef schon gar nicht.“Gab es überhaupt Hilfe für ihn?

Ein Rechtsanwalt, der von dieser spektakulären Verhaftung hörte, eilte zu ihm. Dieser Anwalt tröstete den Weihnachtsmann. „Hier, unterschreiben Sie mir mal diese Vollmacht und machen Sie sich keine Sorgen, ich setze mich für Sie ein und werde für Sie kämpfen“ versprach der Anwalt. „Alles wird sich zum Guten zu wenden“.

Der Rechtsanwalt fragte weiter: „Können sie mir einen Vorschuss zahlen? Nein? Auch gut.“ Der Verteidiger dachte bei sich, ich informiere die Presse, dann werd ich noch heute Nacht stadtbekannt!

In Gedanken entwarf er bereits einen Plan. Er würde durch das städtische Arbeitsgericht eine Grundsatzentscheidung herbeiführen lassen.
Geregelte Arbeitszeiten für den Weihnachtsmann.
Keine Saisonarbeit, sondern ganzjährige Dauerbeschäftigung.
Die Bezahlung der Überstunden sollte ebenfalls eingeklagt werden.
Der Weihnachtsmann hatte nach Ansicht des Anwalts Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld.
Der Boss müsste verurteilt werden, auch die Sozialabgaben für die Dienstzeiten der letzten 200 Jahre und eine Treueprämie nachzuzahlen.
Das wäre ein kräftiger Zuschuss für die leeren Rentenkassen. Die Politiker würden sich gewiss erkenntlich zeigen.
Ich werde berühmt! Beglückt lächelte der Anwalt. Er war bereit, all seine Kenntnisse und Möglichkeiten einzusetzen.

Hastig rannte er in sein Büro, formulierte eine ausführliche Klagschrift und reichte diese noch in der gleichen Nacht beim Arbeitsgericht ein. Der zuständige Richter lehnte die Klage ab. Begründung: Der Wohnsitz des Bosses ist nicht die Stadt K.

Nun übersandte der Anwalt seine Klage der Kirche. Auch dort war niemand zuständig, er wurde an den Papst verwiesen. Hier versprach man, Rücksprache mit dem Boss zu halten. Schon nach kurzer Zeit kam Antwort.

Der Chef lehnte alle geltend gemachten Ansprüche ab. Er sei lediglich bereit, den lange fälligen Urlaub jeweils in den Sommermonaten der nächsten Jahrhunderte zu gewähren und versprach, beim Christkind und Knecht Ruprecht nachzufragen, ob diese den Weihnachtsmann bei seinen Aufgaben helfen und ihn für die Zeit des Urlaubs vertreten würden.

Das erreichte Ergebnis des Anwalts deprimierte den Weihnachtsmann. Wie sehr hatte sein Boss ihn bisher ausgenutzt. Die beantragte Personalverstärkung war ebenfalls nicht sicher. Vermutlich würde sie - wie in der Vergangenheit - wieder abgelehnt.

Doch nun war Schluss, er bat den Anwalt, einen Ortstermin im Kaufhaus zu arrangieren. Diese Gelegenheit nutzte der Weihnachtsmann und floh. Trotz einer sofort eingeleiteten Großfahndung blieb der Weihnachtsmann verschwunden.

Wie heute nach neuesten dpa-Meldungen zu erfahren war, wurde der Weihnachtsmann in der Karibik gesehen. Er will sich für die nächsten hundert Jahre die langverdiente Erholung gönnen, lässt sich auf einer einsamen Insel die Sonne auf die blasse Winterhaut brennen und von zwei bildschönen einheimischen Engeln jeden Wunsch erfüllen.


P.S. Empfehlung an den Boss: Erfülle kleine Wünsche, das vermeidet großen Ärger.

Autor: Zwillingsjungfrau

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