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Ingrid will nicht alt und krank werden

Ingrid erhält eine Einladung. Eine ihr bekannte Politikerin bittet zu einem Diskussionsforum. An diesem Abend soll über das Thema "Pflegenotstand" gesprochen werden. "Um rege Beteiligung wird gebeten", steht dort.

Ingrid hat viele Fragen. Sie weiß aus Erzählungen ihrer hochbetagten Eltern, dass diese in ihrem langen Leben viele schwere Zeiten durchlebt haben. Arbeitslosigkeit, zwei Inflationen, 2 Weltkriege, den Wiederaufbau Deutschlands, einen ungeheuren Technologie-Fortschritt, Existenzängste und vieles mehr mussten sie verkraften. Nun möchten sie endlich einmal die Hände in den Schoß legen und ihren gemeinsamen Lebensabend genießen.

Durch die Medien wird jedoch immer wieder verkündet: Unsere Politiker sagen "NEIN" zu Verbesserungen im sozialen Bereich – im Gegenteil, sie wollen den Sozialabbau!

Der Saal ist erstaunlich gut besetzt, es befinden sich viele ältere Menschen im Publikum. Fast am Ende des Raumes befindet sich eine Gruppe junger Leute, die intensiv miteinander flüstern und einen Zettel herumreichen. Wollen sie stören?

Irgendjemand klopft an ein Glas, das Gemurmel in den Reihen wird zu einem erwartungsvollen Schweigen, die stadtbekannte Politikerin begrüßt mit charmantem Lächeln alle anwesenden Gäste und stellt die Damen und Herren vor, die als Diskussionsteilnehmer aus dem Sozialbereich, der Politik und einer großen Krankenkasse kommen.

Ingrid schaut sich alle sehr genau an, sie möchte ihre Fragen sehr gezielt an die zuständige Person richten.

Es wird vom Podium aus lang und breit um den heißen Brei herumgeredet, keiner der eingeladenen Gäste spricht klar aus, was er tatsächlich denkt.

Endlich ist es soweit, es sollen Fragen aus dem Publikum beantwortet werden.

Die erste Wortmeldung erhält eine ältere weißhaarige Dame. Sie steht zitternd auf und fragt mit fast weinender Stimme "Warum soll unser städtisches Pflegeheim geschlossen und verkauft werden? Ich hatte mich gerade eingewöhnt und nun muss ich wieder fort." Sie wird vertröstet, man werde für sie schon ein neues schönes Haus finden.

Ein junges Mädchen stellt sich als Helferin in einer Sozialstation vor und erzählt, ihr Arbeitsplatz sei gefährdet, ihr soll gekündigt werden. Die Sozialstation hat kein Geld mehr, um die Angestellten länger zu halten. Eine städtische Krankenkasse hat seit fast einem halben Jahr keine Gelder für Pflegeleistungen bezahlt. Es wird auf ein Grundsatzurteil gewartet. "Was wird nun aus all den Pflegebedürftigen, die wir versorgen? Die sind ohne uns doch total allein gelassen!" Als Antwort verspricht einer der Politiker, er wolle den Fall prüfen.

Endlich hat der Diskussionsleiter auch Ingrids hocherhobene Hand bemerkt und wie aus der Pistole geschossen spricht sie die einzelnen Damen und Herren auf dem Podium mit Namen an.

"Herr Meier, werden Pflegeheime deshalb geschlossen, weil die zu erwartende Kostenexplosion durch die eingeklagte Pauschalhaftung bei unverschuldeten Verletzungen von Patienten nicht tragbar ist?"

"Frau Maus, ist es wirtschaftlich unrentabel, Kranken, Behinderten oder alten Menschen die Lebensqualität zu erhalten?"

"Herr Schulz, ist das Schielen nach Gewinn und die Verminderung von Ausgaben wichtiger als die soziale Aufgabe?"

"Frau Abgeordnete, können sich angemessene fürsorgliche Pflege künftig nur noch die Reichen leisten? Und erklären sie mir doch bitte, warum die Bundesregierung die eigene bedürftige Bevölkerung unversorgt lässt? Warum wird von den Politikern immer wieder betont 'Wir müssen sparen!' Und dann planen diese eine fast fünfzig prozentige Erhöhung ihrer Diäten?"

Die Angesprochenen haben fleißig mitgeschrieben und blicken hilflos in die Runde. Ingrid wird geantwortet, man werde auf ihre Fragen später zurückkommen.

Nun erhebt sich ein älterer Mann in einer eindrucksvollen Feuerwehruniform. Er holt tief Luft, wendet den Kopf zum Publikum, dann zu den Diskussionsteilnehmern und erinnert, dass die jetzt in Pflegeheimen lebende Generation nach dem Zweiten Weltkrieg unsere Städte und unseren Staat wieder aufgebaut hat, allen voran die "Trümmerfrauen", damit wir heute in relativem Wohlstand leben können. "Es ist beschämend", donnert er mit lauter Stimme in den Saal, "nun Pflegebedürftigen zu verweigern, was ihnen einzig wichtig ist, sie erfüllt, zufrieden und glücklich macht und sie nicht verzweifeln lässt, "Fürsorge und Pflege für ihre letzten Lebensjahre."

Ungefragt tönt eine zornige Stimme aus dem Publikum "Wenn jeder Politiker, jede Politikerin und jeder Entscheidungsbeauftragte im Sozialbereich nach dem Prinzip handelt, Pflege soll so gestaltet werden, wie ich im Alter gern selbst gepflegt würde, dann gäbe es keinen Pflegenotstand."

Am Saalende erhebt sich die Gruppe der jungen Leute, sie sehen sehr aufgebracht aus und fuchteln drohend mit den Fäusten. "Die Rentenkassen sind leer. Mit Geldern aus jahrzehntelangen Einzahlungen der arbeitenden Bevölkerung wurden andere Löcher gestopft. Die Rentenversorgung ist nicht mehr sichergestellt. Wir Berufstätigen und kommende Generationen sind aufgefordert, für unsere Altersabsicherung selbst zu sorgen." Die Politikerin antwortet, dies gehöre nicht zum heute besprochenen Themenbereich.

Die Redeanfragen werden stürmisch. Eine Mutter, an jeder Hand eines ihrer Kinder, erhebt sich. Sie beklagt, dass der Staat immer mehr Bereiche öffentlicher Aufgaben in die Ehrenamtlichkeit verlagert. Beispiel Kindergärten: Gesetzlich wird jeder Familie mit Kindern ein Kindergartenplatz garantiert. Die Verwaltung wird caritativen Verbänden überlassen. Oder die Feuerwehr: Ohne das Heer der hier ehrenamtlich Tätigen wäre der Besitz - auch staatlicher - nicht zu schützen. Eine Antwort erhält sie nicht, dafür donnernden Beifall aus dem Publikum.

Und dann kommt von der Politikerin eine Antwort. "Der Staat hat kein Geld." Weitere Fragen werden nicht mehr beantwortet. Die Diskussion ist beendet, alle dürfen mit ihren unbeantworteten Problemen wieder nach Hause gehen.

Ingrid ist traurig und wütend. Diese kritischen Bemerkungen schrieb sie 2003. Bis heute hat sich nichts geändert.

Autor: Zwillingsjungfrau

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