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Ingrid sucht ein Mauseloch

Es gab eine Zeit, in der sich Ingrid ehrenamtlich engagierte. Unkenrufe geisterten damals durch die Presse „Das Ehrenamt stirbt aus“. War das tatsächlich so? In dem Verein, für den Ingrid arbeitete, bildete sich eine Gruppe, um diese Fragen genauer zu prüfen. Da alle Vorstandsmitglieder sich ehrenamtlich engagierten, musste man nur die Nachbarvereine fragen.

Wenn viele Köpfe ein Problem durchdenken, sind die Fragen rasch formuliert. Ein Fragebogen wurde wurde zusammengestellt und mit je zehn Exemplaren an 52 Ortsgruppen versandt. Dann kam der Rücklauf. 51 Gruppen sandten die Fragebögen mit durchschnittlich sieben Exemplaren ausgefüllt zurück. Wer wertet diese nun aus? Ingrid erhielt diesen Auftrag, verglich, zählte die Stunden und sortierte die Motive, warum Menschen ihre Zeit einsetzen, um anderen zu helfen. Das Ergebnis war erstaunlich, denn alle Befragten waren sich darin einig, die Arbeit solle Spaß machen. Ingrid fasste die Auswertung in einer Broschüre zusammen. Ihre nächste Aufgabe sollte darin bestehen, Ortsvereine, deren Aktivitäten sich nur noch einer Gruppe zuwandten, mit neuen Ideen zu beleben. Deshalb besuchte sie Vorträge und Veranstaltungen zum Thema Ehrenamt.

An diesem Abend, von dem ich berichten will, wollte Ingrid einen sozialpolitischen Vortrag eines bekannten Redners hören. Eine Politikerin hatte dazu eingeladen. Ingrid kannte sie und ging zu ihr, um sie zu begrüßen. Die Politikerin wollte wissen, woran Ingrid gerade arbeitete und so erzählte ihr Ingrid von der Fragebogenaktion und den erstaunlichen Ergebnissen. Dann setzte sich Ingrid auf einen Platz in der ersten Reihe.

Der Saal füllte sich, der Redner kam nicht. Die Gäste wurden vertröstet. Alle warteten. Die Politikerin stand auf, klopfte an ihr Glas und erklärte, der Redner sei auf dem Weg durch irgendetwas aufgehalten worden, er komme aber noch. Dann setzte sie fort: „In der Zwischenzeit wird Ihnen Ingrid Tolkmitt etwas berichten zu dem gerade untersuchten Thema 'Stirbt das Ehrenamt aus?'"

Ingrid sah sich entsetzt um. Gab es hier ein Mauseloch? Wo war der Umhang, der sie unsichtbar machen konnte? Sollte sie einfach umkippen und eine Ohnmacht vortäuschen? Sie hatte irres Herzklopfen. Die etwa 300 Zuhörer waren „vom Fach“. Sollte Ingrid sagen, sie könne das nicht ..., sie habe noch nie ..., ihr fehlten das Konzept und Zahlen ...? Noch nie hatte Ingrid vor so vielen Leuten gesprochen; das konnte sie nicht. Warum bat die Politikerin gerade sie? Ob irgendjemand ihre Angst sah und dass sie Blut und Wasser schwitzte?

Nein, so ging das nicht. Mit zitternden Knien stand sie auf und ging zum Rednerpult. Mit kräftiger Stimme - sie ist tragend und reicht bis zur letzten Reihe - stellte sie sich vor. Sie beschrieb, wie die Idee für diese Aktion entstand, wie rege die Beteiligung war. Die Broschüre war in fünf Hauptabschnitte unterteilt. So nahm sie am Pult ihre Finger zur Hilfe und beschrieb das jeweilige Kapitel. Da sie kein Konzept vor Augen hatte, sah sie ins Publikum und erzählte auch Heiteres, das sich bei der Auswertung ergeben hatte. Nur ihre fünf Finger unterstützten sie.

Auf das Ende des Vortrags hatte sie nicht hingearbeitet. Sie selbst war überrascht, dass ihr plötzlich der Stoff ausging. Und nun? Erneute Panik, was machte sie nur? Sich einfach still wieder setzen? Nein, das ging nicht. Ingrids entsetzte Augen irrten durch die Reihen, alle sahen Ingrid gespannt an, als würden sie noch etwas Besonderes erwarten. Ingrids Blick blieb an der Paradeuniform eines Feuerwehrmannes hängen. Der ältere Herr schaute sie freundlich an. Mit ausgestreckter Hand zeigte sie auf den Feuerwehrmann und fragte ihn, ob er Schwierigkeiten hätte, den Bestand seiner ehrenamtlichen Helfer aufzufüllen. Er stand auf und erzählte von der nach wie vor begeisterten Jugend, die Nachfrage sei immer sehr groß und so sei es ein automatisches Aufrücken. Es meldeten sich andere Zuhörer zu Wort, die ebenfalls über ihre Erfahrungen berichten wollten. Ingrid braucht nur noch durch Handzeichen das Wort zu erteilen. Die Stimmung im Saal war lebhaft.

Und dann kam der Redner. Ingrid fiel ein Stein vom Herzen. Erleichtert lächelte sie ihre Zuhörer an. Die Politikerin klopfte energisch an ihr Glas und bat mit lauter Stimme um Ruhe. Sie dankte Ingrid und das Publikum reagierte mit begeistertem Applaus. Das war nun ein drittes Mal, dass Ingrid verlegen wurde und erneut ein Mauseloch suchte. Hatte nicht jeder ihre Angst und Unsicherheit gespürt? Doch eins hatte sie daraus gelernt: Nach dieser ersten Rede konnte sie nichts mehr erschüttern. Wurde sie später gebeten, etwas vorzutragen, so kalkulierte sie immer eine Zeit für Diskussionen ein. Wenn die Gäste aufgefordert wurden, selbst etwas zum Thema zu sagen, ging später ein jeder mit dem Gefühl nach Hause, dass dies ein Abend war, der ihm Spaß gemacht hatte.

Autor: Zwillingsjungfrau

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