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Ingrid erlebt Paris

Als Ingrids Eltern beschlossen, eine Reise nach Paris zu machen, war sie voller Vorfreude. Diesmal sollte es keine anstrengende Autotour werden. Die Eltern beschlossen, eine günstige Pauschalreise per Bus zu buchen. Wie Ingrid später vermutete, wollte sich ihr Vater, obwohl er immer sehr versiert und vorausschauend fuhr, den Pariser Verkehr nicht antun.

Von 10 Autos auf den Pariser Straßen waren 9 verbeult. Die Pariser schienen das nicht so eng zu sehen. Fahrspuren fehlten auf den Straßen, alle Autos kurvten kreuz und quer oder blieben ohne er-kennbaren Grund mitten auf den Kreuzungen stehen. Hupen schien ein Nationalsport zu sein. Geparkt wurde, wo eine Minilücke vorhanden war. Wollte ein Fahrer wieder ausscheren, rummsten er oder sie so lange gegen den hinteren und vorderen Wagen, bis sie sich genügend Platz verschafft hatten, um die Parklücke zu verlassen. Um dabei entstehende Beulen kümmerten sich wieder die vorbeigehenden Passanten noch die Autofahrer. Die Fußgänger gingen grundsätzlich bei Ampel-Rot über die Straße, die Autos hupten, der Verkehr war völlig blockiert.

Ingrid fielen fast sofort zwei Dinge auf. „Schau mal, Mutti“, staunte Ingrid, „die vielen Schornsteine.“ Die Dächer waren bestückt mit unzähligen Tonröhren, sie waren offensichtlich nicht in Betrieb. Mutti und Ingrid sahen abends nie Rauch daraus aufsteigen. Doch sie gaben den Dächern von Paris ein unverwechselbares Aussehen. Ingrid fragte nach und erfuhr, dass jeder Raum einen eigenen Abzug hat. Es handelte sich um eine aus der Vergangenheit stammende Verordnung. „Dies darf nicht geän-dert werden“, wurde ihr gesagt. Ein Traumland für Schornsteinfeger?

Das zweite, was Ingrid schon am ersten Tag als befremdlich vorkam, war die ungewöhnliche Art, Rinnsteine zu säubern. Nachmittags wurden die Rinnsteine gereinigt, indem die Stadt Wasser durch die Kanalisation presste. Aus den Gullis sprudelte stundenlang frisches sauberes Wasser heraus. Die Richtung, in der es fließen sollte, wurde durch alte Teppichrollen gelenkt, die, je nach Bedarf, entwe-der nach rechts oder links vom Gulli gelegt wurden. So wurde dem Wasserstrom die gewünschte Richtung gegeben. Hierbei handelte es sich ganz offensichtlich um klares Frischwasser. Das Wasser der Seine ist braun und mit Sedimenten belastet. In Anbetracht deutscher Wasserpreise wurde Ingrid auf ihre Frage, ob es sich hier nicht um ein sehr teures Reinigungsverfahren handele, erklärt, dass „Paris reich an Wasservorräten sei und im übrigen wären die Pariser an diese Form der Straßenreini-gung gewöhnt.“ Abfälle wurden grundsätzlich an den Bordstein geworfen, damit sie dann nachmittags fortgespült werden konnten. Für die Passanten und natürlich auch für Ingrid erforderte dies manchmal einen 'Hechtsprung', um über das oft recht breite und stark strömende Rinnsal hinwegzuhüpfen.

Das gebuchte Hotel im Stadtteil Montmartre war eine angenehme Überraschung. Die Aussicht aus dem Fenster (9. Stock) bot einen herrlichen Anblick über die Dächer von Paris, von der Sacré Cœur einerseits über einen sehr alten Friedhof direkt neben dem Hotel, auf dem sich die Grabstellen einiger berühmter Künstler befinden, bis hin zum Seine-Ufer und La Défence.

Die Mittagspause während der ausführlichen Stadtrundfahrt nutzen Ingrid und ihre Eltern, um die Grand Opera zu besichtigen. Sie besticht noch immer durch ihre Ausstattung. Die breite geschwunge-ne Marmortreppe mit Kandelabern, der Zuschauerraum, ganz in rot und gold gehalten, der riesige Kris-tall-Lüster und Marc Chagalls Deckengemälde hinterließen einen tiefen Eindruck. In der Kirche Notre-Dame bewunderten die drei Urlauber hingerissen die riesigen Rosetten der Kirchenfenster, die mit den vielen Blau- und Rottönen ein wundervolles Lichterspiel hervorzauberten. Ingrid konnte sich kaum sattsehen.

Da sie äußerlich schon fast wie eine junge Dame wirkte, waren ihre Eltern einverstanden, dass ihre ‚Kleine’ unter elterlicher Aufsicht auch das Pariser Nachtleben kennenlernte. Also haben sich Mutti und Ingrid 'in Schale' geworfen. Mutti meinte schelmisch lachend: „Mach dich hübsch. Die Konkurrenz schläft nicht!“ Vielleicht dachte sie dabei aber in erster Linie an ihren eigenen Mann, dem sie ebenfalls einen Blickfang bieten wollte. Dies zeigte Wirkung. Da die zwei Damen vorausgingen, wurden sie an den besten Tisch des Hauses geführt. Die zwei Ober, die um sie herumscharwenzelten, guckten zwar etwas verdutzt, als Vati erschien, doch die zwei fanden rasch ihr inneres Gleichgewicht wieder. Ein dritter Stuhl wurde an den Tisch gestellt. Ein ganz ausgezeichnetes Essen hob die Stimmung. Ingrids Mutti wurde von Vatis Blicken umworben. Dafür richteten die zwei Garçons all ihre Aufmerksamkeit auf Ingrid. Sie beobachteten jede ihrer Gesten oder Bewegungen. Durch eine hastige Geste fiel Ingrids Abendtasche herab, worauf für die Tasche ein eigener Stuhl an den Tisch gestellt wurde.

Das Programm, vom klassischen Can-Can mit Röcke werfen, Spagat und viel Gejuchze bis hin zu Tanzszenen mit einer modernen Choreographie sowie mit ausgesucht schönen Agierenden, war eine wahre Augenfreude. Diesen Abend empfand jeder der drei als einen besonderen Genuss. Ingrid hatte jedoch den Eindruck, dass Vati sich mehr für Mutti als die schönen Tänzerinnen interessierte.

Da das Hotel relativ nahe der Innenstadt lag, beschlossen die drei Unternehmungslustigen, am nächs-ten Tag Paris zu Fuß zu erobern. Nach dem langen Fußmarsch durch die Pariser Innenstadt streikte Vati. Er wollte keineswegs hinter seinen zwei Frauen durch Modeabteilungen traben. Ihm stand der Sinn nach einem kühlen frischen Bier. Ingrid und Mutti interessieren sich dagegen sehr dafür, welche Mode die großen Designer in Paris für das nächste Jahr diktierten. Deshalb war das Kaufhaus La-fayette ein absolutes Muss. „Sieh mal, Muttchen“, dabei zeigte Ingrid auf die ausgestellten Kleider, „die Farbe ist entweder pastell, einfarbig oder mit zartem farbigen Muster bzw. ein leuchtendes Rot, nicht signalrot sondern eher blaurot.“ Die Stoffe waren häufig transparent und aus Chiffon. Mutti da-gegen mit geübtem Schneiderinnenauge schwärmte begeistert „Mir gefällt der Schnitt, in drei Abstu-fungen übereinander, also Rock oder Kleid, Oberteil und Jacke oder Cape. Das wirkt so luftig duftig, sehr leicht und ist sooo kleidsam.“

Im Straßenbild wurde von den beiden dann überprüft, wie sich die Pariserin kleidet. Viele Frauen, zumindest ab 30, zeigten Bein. Nur sehr junge Mädchen trugen Hosen. Die Länge variierte von Mini bis Maxi, alles schien erlaubt zu sein. Die Strümpfe waren entweder dunkel oder blickdicht.

Obwohl an diesem Tag ab Mittag Nieselregen einsetzte und den ganzen Tag über nicht wieder aufhö-ren wollte, tat das der guten Laune und der Entdeckerfreude keinen Abbruch. Beim Spaziergang durch die Tuileries am Louvre spazierten Mutter und Tochter, ausgelassen im Slalom um die Regenpfützen und überlegten. „Wie wäre es wohl, als Hofdame Ludwig's des XIV. hier im Schlenderschritt mit kleinem Sonnenschirm zu flanieren“, fragte Ingrid. „Stell Dir vor, mein langer Rock würde durch einen Knaben getragen und die Kavaliere machten uns den Hof.“ Mutti begeisterte diese Vorstellung. „Wir würden uns überlegen, wie wir den Abend gestalten und welche Robe wir für das nächste Fest tragen. Wir müssten uns allerdings überlegen, wie wir die entsprechenden Mittel besorgen, um die gewünschte Aufmachung bezahlen zu können. Vielleicht müssten wir dafür einem Kavalier 'gefällig' sein.“ Dieser Gedanke gefiel Ingrid nun gar nicht. Sie sinnierte ein wenig und meinte dann – fast wie eine Erwachsene - wie schön es sei, in unserer heutigen Zeit zu leben. Sie fasste ihr Muttchen um die Taille und drehte sie ausgelassen im Kreis herum. „Ist es nicht herrlich, eine moderne Frau mit eigenem Lehrlingseinkommen zu sein. Es geht doch nichts über die Freiheit, tun und lassen zu können, wozu wir Frauen Lust haben.“ Die zwei waren sich darin einig, dass es herrlich ist, eine Frau des 20. Jahrhunderts zu sein, selbständig, unabhängig, reiselustig und bildungshungrig.

Nicht fehlen durfte ein Rundgang durch das neu erbaute Stadtviertel La Défence. Da Vati an der Ar-chitektur dieses Stadtviertels interessiert war, schloss er sich seinen Damen wieder an. Die Stadtver-waltung beschloss Ende der 50er Jahre, den Berufsverkehr aus der Innenstadt zu verlegen in ein neu zu bauendes Büroviertel an der Périphérique. Es entstand somit ein Viertel mit modernen Hochhäusern in teilweise bizarren Bauformen, mit sehr viel Glas und Marmor sowie einer hochmodernen Ver-kehrsanbindung. Täglich arbeiten hier 140.000 Menschen. In La Défence wohnen jedoch nur rd. 20.000 Einwohner. Dies führt dazu, dass dieser Stadtteil abends und am Wochenende geradezu entvölkert ist. Die Stadtverwaltung von Paris versucht dem entgegenzuwirken, indem auf den großen Plätzen an vielen Wochenenden Veranstaltungen durchgeführt werden. Neben den modernen und architektonisch gut gelösten Hochhäusern besticht vor allem der „dritte’ Triumpfbogen, La Arche de Triomphe. Von diesem Platz aus hat man in gerader Sicht über die Champs-Elysée einen guten Blick auf den Arc de Triomphe. Damit wurde das historische Paris eindrucksvoll und gelungen mit der Architektur des 20. Jahrhunderts verknüpft.

Vati, Ingrid und Muttchen waren sich einig: „Paris ist eine sehr schöne Stadt mit bezaubernden Men-schen. Die Stadt hat ein Flair, das gute Laune und ein heiteres Gemüt auslöst, Vergangenheit kann hautnah erlebt und nachempfunden werden, der geballte Innenstadtraum wirkt in seiner Schönheit an Fassaden nicht erdrückend sondern eher atemberaubend und die Sehenswürdigkeiten machen Lust auf weitere Besuche.“

Autor: Zwillingsjungfrau

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