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Weißt du noch?

Eines Morgens erhielt ich einen Anruf; ich wurde gefragt, ob ich auf einem Vereinstreffen etwas vortragen würde. Aus meiner frühesten Jugend sollte es sein und mit der Winterzeit zu tun haben. Ich war dazu bereit und wollte mir etwas überlegen.

Es ist ja so, dass ein Schreiber, bevor er etwas zu Papier bringt, seine Gedanken auf Reisen schickt. Meine waren längst unterwegs, während meine „äußere Hülle“ sich derweil mit dem Putzen der Außenfenster beschäftigte.

Da es in der Nacht gefroren hatte, wurde das Putzwasser schnell kalt und meine Finger dazu. Ich versuchte sie warm zu reiben. Dabei fiel mir plötzlich mein Vater ein und ich hatte meine Wintergeschichte.

Was uns in Essen fehlte, war der Schnee, wie wir ihn von Hannover her kannten und der uns zum Schlittenfahren verführte. Den schönen weißen Schnee gab es im Kohlenpott nicht. Das bisschen, was Frau Holle beim Bettenschütteln aus den Federn fiel, blieb selten liegen oder verwandelte sich schnell in grauen Matsch. Von weißen Schneemännern konnten wir bloß träumen.

Damals war mein Vater viel mit dem Auto unterwegs und wusste inzwischen, wo wir es fast so antreffen würden wie in Hannover. So packte er eines Tages seine beiden Jungs und seine älteste Tochter - mich - dick vermummt samt Schlitten ins Auto. Unsere Mutter blieb mit den beiden Jüngsten zu Hause.

Die Fahrt ging in Richtung Sauerland. Alles war dick weiß eingeschneit. Wie Sahneberge saß der Schnee an den Grabenkanten. Die Tannenzweige hingen tief unter der weißen Last. Kam man daran, stäubte der Schnee wie kalter Puderzucker in Gesicht und Kragen. Im Sonnenschein funkelte es, als lägen überall Diamanten herum. Bei der gleißenden Helle schmerzten die Augen.

An dem Berg, den Papa als Schlittenabfahrt ausgekundschaftet hatte, herrschte schon reges Treiben. Wir stürzten uns in die weiße Pracht. Einzeln, zu zweit, zu dritt sausten wir auf dem Schlitten den Berg herunter. War das fein! Nur den Schlitten wieder hinaufziehen, das wollte jeder ebenso gern dem anderen überlassen. Dann kam einer meiner Brüder auf die Idee, bäuchlings den Berg hinunterzufahren. Das war was! Wir mussten es natürlich alle ausprobieren.
Die Zähne klapperten; die Mütze machte sich selbständig, die Richtung ging verloren. Bremsen war ein Kunststück, Lenken erst recht und wir wurden heiser vom vielen Bölken: BAHN FREI, BAHN FREI!
Papa besah sich das Spektakel eine Weile und meinte dann, er wolle uns einmal zeigen, wie so etwas „richtig“ gemacht würde.
Er zog mit dem Schlitten nach oben. Wir standen am Ende der Bahn und warteten gespannt. Da kam er. Er kam mit einem gewaltigen Tempo heruntergesaust. Er lenkte den Schlitten mal zu der einen und mal zur anderen Seite. Und wie er das konnte!
Er brauchte nicht bölken ‚Bahn frei’. Gekonnt umfuhr er andere Schlittenfahrer. Wie wir ihn bewunderten!

Jetzt war er bald angelangt, der letzte kleine Hügel musste noch überwunden werden. Da machte der Schlitten mit unserem Vater plötzlich einen seitlichen Schlenker. Wir konnten nur noch ein gedämpftes „Aua“ vernehmen und sahen Papa mit einem wenig eleganten Salto in einem Schneeberg verschwinden. Nach kurzer Zeit tauchte er wieder auf, klopfte sich den Schnee ab, nahm den Schlitten beim Tau, kam den Weg zu uns angehumpelt und stöhnte erbärmlich.

Die linke Hand hielt er hoch und wir sahen, dass auch einer seiner Finger die Richtung verloren hatte und quer abstand.

Papa hatte einen Stein übersehen. Beim Regulieren der Richtung mit Händen und Füßen war er sich selbst über den Finger gefahren, als der Schlitten den Schlenker machte.
Armer Vater! Wir bedauerten ihn und uns selber gleich mit, denn nun war es vorbei mit der Schlittenfahrt. Wenig vergnügt fuhren wir wieder zurück nach Essen, in den grauen Schneematsch. Unser Vater war beim Arzt, der ihm die ganze Hand eingipste und Ruhe verordnete.
Wenn es später denn mal wieder einen Schneewinter gab, wurde dieses Malheur aus der Versenkung geholt und erzählt. „Weißt du noch?“

Autor: egalis

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