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Sechs in Mathe

Hanna wusste, dass sie in Mathematik eine Niete war. Kein Wunder, fehlten ihr doch wegen des Krieges die ersten beiden Volksschuljahre, gewissermaßen das Fundament für alles was da noch kommen sollte.
Nach dem Krieg kam sie direkt ins 3. Schuljahr, wurde auch noch mehrere Wochen krank, und musste, wie so viele Kinder ihres Jahrgangs, einiges nachholen. Mit mehr oder weniger Erfolg. Aber Dank der Mühe von Fräulein Krella schaffte sie schließlich die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium.

Bunte Zahlen aus Holz

Das Gymnasium bedeutete für Hanna eine gewisse Verpflichtung, da Mutter nun monatlich 40 Mark Schulgeld aufbringen musste. Doch leichter fiel ihr der Unterricht deshalb nicht. Schon gar nicht der Mathematikunterricht. Gut, sie konnte addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Aber allein diese neuen fremden Ausdrücke für das Zusammenzählen, Abziehen, Malnehmen und Teilen verwirrten sie.
Nachdem bereits ihre zweite Klassenarbeit mit Sechs benotet worden war, bat die Mathematiklehrerin Hannas Mutter zu einem Gespräch.
Hanna saß neben ihrer Mutter, die sichtlich erregt war, als Fräulein Röttger sagte:
„Sie müssen wissen, dass Ihre Tochter in Mathematik völlig unfähig ist, aber in Sprachen ist sie gut. Wenn sie in Sprachen gut ist, muss sie nicht unbedingt auch in Mathematik gut sein.“
Oha, dachte Hanna, das werde ich mir merken. Und sie beschloss, sich ab sofort nicht mehr für Mathematik zu interessieren.
Aber das bedeutete für jede weitere Klassenarbeit eine Sechs.

Später, im Pensionat, wo der Unterricht in französischer Sprache ablief, hatte Hanna längst entschieden, sich nicht mehr am Mathematikunterricht zu beteiligen. Noch bevor die Lehrerin die Klasse betrat, hatte Hanna den Raum schon verlassen. Stattdessen spazierte sie im Park, besuchte sie die Schwäne im Weiher oder verschwand in der Aula, um dort dem Klavier die schönsten Akkorde zu entlocken.

Das konnte natürlich nicht gut gehen. Nach zwei Tagen zitierte die Direktorin Hanna zu sich ins Büro.
„Du wirst ab sofort wieder am Mathematikunterricht teilnehmen. In diesem Haus sind derartige Eigenwilligkeiten verboten“, schimpfte sie.
„Pardon“, erwiderte Hanna, „das ist zwecklos, ich verstehe kein Wort und schon gar nicht die Zusammenhänge. Wenn ich stattdessen in den Park gehe oder Klavier spiele, können Sie nichts dagegen tun.“
Diese Erwiderung verschlug der Direktorin förmlich die Sprache. Hätten ihre Blicke töten können, wäre Hanna auf der Stelle umgefallen. Doch die drehte sich nur um und ging wortlos hinaus.
„Du wirst Dich noch wundern!“ hörte sie die Direktorin noch rufen.
Am Ende ihrer Schulzeit stand auf dem Zeugnis neben dem Fach Mathematik anstatt einer Note ein Strich. Und damit war Hanna sehr zufrieden und wunderte sich keineswegs.
Allerdings hatte sie später nie Probleme mit Zahlen.
Doch wurde ihr immer mehr bewusst, dass Buchstaben sehr viel sympathischer sind als Zahlen. Sie sind Bestandteil von unendlich vielen Wörtern, mit denen sich immer wieder wundervolle Sätze formulieren lassen.

Autor: fleurbleue

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