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„Püppchen“, die feine Frau vom Uhrenladen

Immer wenn von „Püppchen“ die Rede war, wusste jeder im Ort, wer gemeint war. Und das seit vielen Jahren.
Püppchen war immer schick gekleidet, trug jeden Tag andere Ohrringe und wechselte ständig ihre Halsketten passend zum Outfit. Kein Wunder, denn ihr gehörte ein Schmuck- und Uhrenladen.

Zeichnung einer schön gekleideten Frau

Seit dem frühen Tod ihres Mannes führte sie das Geschäft allein. Auch um den kleinen Haushalt und das Kochen kümmerte sie sich selbst. Undenkbar, dass sie jemals jemanden in ihre Wohnung gelassen hätte. Wie einen Gral hütete Püppchen Ladenkasse und Handtasche, und wenn sie sich im Geschäft aufhielt, schloss sie die angrenzende Tür zu ihrer Wohnung immer hinter sich ab. Ein falscher Kunde könnte ja … wer weiß, wer weiß.

Jeden Morgen machte sie die Runde, um die vielen Wanduhren aufzuziehen, denn das vielfältige Ticktack der großen, der kleinen und noch kleineren Uhren war Püppchens Ohrenschmaus den ganzen Tag lang, nur unterbrochen vom Klingeln und Läuten zur vollen Stunde. Selbst der Kuckuck klappte dann jedes Mal sein Türchen auf, um ein Wörtchen mitzureden.
Fast jeden Tag sah man sie draußen an der Ladentür stehen, die Hand schützend über den Augen, so als sei sie von der Sonne geblendet oder als halte sie Ausschau nach irgendjemandem. Passanten grüßte sie freundlich, in der Hoffnung, den einen oder anderen als Kunden zu gewinnen, und sei es nur für die Reparatur einer Uhr.

Hin und wieder blieben Frauen am Schaufenster stehen, für die so manches edle Stück eine Versuchung bedeutete. Doch nur zu besonderen Anlässen und vor Weihnachten blühte das Geschäft wirklich.
Oft aber versammelten sich auf der anderen Straßenseite Scharen von Kindern, die sich über Püppchen lustig machten:
„Hurra hurra, Püppchen da! Hurra hurra, Püppchen da!“

Püppchen fühlte sich deshalb keineswegs geschmeichelt. Im Gegenteil, sie schimpfte, drohte den Kindern, erntete aber nur Gelächter. Trotzdem wollte Püppchen immer gesehen werden, besonders von den Nachbarn, hielt sich diese aber strikt vom Leib. Niemand wagte die fein gekleidete, aber grantige Frau anzusprechen, und so hatte sie wenig Kontakt und schon gar keine Freunde. Aber die Nachbarschaft registrierte alles, was Püppchen tat und was um sie herum geschah. Wann sie morgens die Rollläden hochzog, um welche Zeit sie sie abends wieder herunter ließ und vor allem welchen Hut sie beim Kirchgang trug.

Wanduhr mit Pendel

Mittlerweile war Püppchen vierundachtzig und schaute, immer noch fein gekleidet, ab und zu aus der Ladentür. So manche Falte zierte ihr Gesicht, und vom allmorgendlichen Brennen mit der Lockenschere war ihr Haar dünn und spärlich geworden. Zu ihren Verwandten hatte sie ein ziemlich gestörtes Verhältnis. Kein Wunder, dass sie, mit Ausnahme von Enkelin Lena, nichts mehr von ihnen gehört hatte.

Eines Morgens meldete sich bei Lena Püppchens Nachbar Felsenstein:
„Mit Ihrer Großmutter stimmt etwas nicht. Seit gestern hat sie die Rollläden nicht hochgezogen. Das ist ungewöhnlich. Vielleicht schauen Sie einmal bei ihr nach.“
Lena ahnte nichts Gutes und verabredete ein Treffen mit Herrn Felsenstein. Trotz mehrfachen Klingelns an Püppchens Tür rührte sich nichts. Blieb nur eine Möglichkeit: eine Kletteraktion auf den Balkon.

Alle Fenster waren geschlossen und durch die inneren Fensterläden verriegelt. Lena spähte durch eine Ritze und erschrak, als sie Püppchen am Boden liegen sah. Herr Felsenstein musste die Fensterscheibe einschlagen, um den eisernen Riegel anzuheben, damit er und Lena vorsichtig einsteigen konnten. Püppchen lag da, ganz friedlich, die Handtasche am Arm, neben sich das brennende Heizöfchen, das bereits einen schwarzen Fleck ins Linoleum gebrannt hatte. Sie atmete, aber reagierte nicht. Herr Felsenstein öffnete die abgeschlossene Tür und lief hinüber in sein Haus, um nach einem Arzt zu rufen. Kurze Zeit später brachte ein Krankenwagen Püppchen ins Krankenhaus.

Da lag sie nun, noch immer die Handtasche am Arm, als sie plötzlich unruhig wurde:
„Ich habe mein Schirmchen vergessen“, stöhnte sie.
„Ihr müsst mir mein Schirmchen holen, schnell!“
Die Krankenschwester gab Lena ein Zeichen und winkte ab.

Nur kurze Zeit später hatte sich Püppchen still ins Jenseits begeben.
Ohne Schirmchen und Handtasche ...

Autor: fleurbleue

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