Ein Hauch von Freiheit
Ein Taxi war aus Geldmangel natürlich ausgeschlossen. So mussten Mutter und ich den schweren Koffer abwechselnd die nicht enden wollende Straße hinauf schleppen. Der Koffer enthielt die komplette Ausstattung, die ich für das Leben im Pensionat brauchte. Sogar ein Essbesteck gehörte dazu.
Welch ein Aufatmen, als wir endlich an der Einfahrt zum Pensionat angekommen waren. Beim Blick auf das Schild an der Mauer stutzte ich.
„Pensionnat des Ursulines“, doppeltes n? Ein Fehler? Nein, denn kurze Zeit später lernte ich, dass dieses doppelte n die französische Schreibweise ist.
Das Anwesen lag inmitten eines herrlichen Parks, der zum ehemaligen Schloss des Baron de Goer von Herve gehörte.
Wir gingen den von hohen, alten Bäumen gesäumten Weg entlang, der direkt zu einem langgestreckten, zweistöckigen Gebäude führte, das auf seiner rechten Seite von einer Kirche überragt wurde. Davor, im rechten Winkel zur Kirche, leuchtete weiß das kleine Schloss mit seiner Orangerie.
Zu unserer Linken dehnte sich eine große, leicht ansteigende Wiese aus, die bis an den Wald heran reichte. Ich war fasziniert.
Auf unser Läuten an der Schlosspforte öffnete eine alte Dame. Sie fragte nach unseren Namen und führte uns in ein edel möbliertes Zimmer, wo wir warten sollten. Im Vorbeigehen fiel mein Blick auf ein kleines Schild an der Treppe mit der Aufschrift „Clôture“. Die phonetische Ähnlichkeit mit dem deutschen Wort Klotüre amüsierte mich. Doch wusste ich, dass dies „Klausur“ bedeutete, wo die Schwestern wohnen.
Es dauerte nicht lange, da trat eine Schwester ein, nein, sie wehte förmlich herein, denn fast hätte sie beim Schließen der Tür ihren Schleier eingeklemmt.
Ich war überrascht vom Temperament dieser Ordensfrau und starrte auf ihr Kinn, das eine Menge Bartstoppeln hatte. Ob sie sich rasieren muss? überlegte ich.
Nachdem sie Mutter begrüßt hatte, wandte sie sich an mich in etwas holprigem Deutsch:
„Du bist Lena und bleiben eine Zeit bei uns. Ich bin Mère Yvonne, ta mère de chambre, deine Zimmermutter. Wenn du Fragen hast, du kannst immer kommen zu mir“, sagte sie freundlich und reichte mir die Hand.
Was mochte sich wohl hinter dem Wort „Zimmermutter“ verbergen? dachte ich.
Nach der nur kurzen Unterhaltung bedankte sich Mutter, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Und dass ich keine Klagen höre.“ Damit verabschiedete sie sich eilig.
Mit Mère Yvonne winkte ich ihr noch nach, bis sie an der Einfahrt verschwunden war.
Seltsam, dieser Abschied schmerzte mich keineswegs, im Gegenteil, ich empfand ihn als Befreiung von all den bedrückenden Erlebnissen der Vergangenheit, von den vielen traurig-schlaflosen Nächten in dem engen Mansardenzimmer. Ich spürte einen Hauch von Freiheit und war nun gespannt auf alles Neue.
Mère Yvonne führte mich in den Speisesaal, zeigte mir die Schulklassen, die riesige Aula, in der ein Klavier stand, und im ersten Stock den Schlafsaal mit den durch Holzwände getrennten Zellen. Verborgen hinter einem weißen Vorhang standen ein Bett, ein Stuhl und eine Kommode mit einem Spiegel an der Wand.
In den folgenden, noch schulfreien Tagen tanzte ich mit hoch erhobenen Armen durch die weiten, stillen Flure, wanderte durch den frühlingshaften Park, beobachtete am Weiher die beiden Schwäne, sogar einmal in der Nacht, stieg weiter hoch in den Wald und kam aus dem Staunen nicht heraus.
Das Essen nahm ich mit den „Hauskindern“ ein, die hier den Haushalt erlernten, und schlief vorübergehend in ihrem Schlafsaal.
Als am Sonntagabend die Schülerinnen aus den Ferien zurückkehrten, wurde es schlagartig lebendig. Mère Yvonne gab hier und da Anweisungen und wies mir meine Zelle im Schlafsaal zu, wo ich nun in der Kommode meine Sachen verstauen konnte. Anstelle eines Waschbeckens gab es nur eine Kanne mit Wasser und eine Schüssel. Aber das war ich von zu Hause ohnehin gewohnt.
Ich hätte nie gedacht, dass ich in diesem Haus mit seiner traumhaften Umgebung meine glücklichsten Mädchenjahre verbringen würde.
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