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Die Diagnose

Es war wieder eine jener schlaflosen Nächte, die mich in letzter Zeit plagten und an meinem Verstand zweifeln ließen. In meinem Kopf tummelten sich Erinnerungen an die vielen privaten Karnevalspartys vor Jahrzehnten, zu denen die Gäste in selbst genähten Kostümen erschienen und irgendetwas Tolles zum Besten gaben. Ach, was war das immer ein Spaß!

Verkleidetes Kind

Beim Gedanken an diese Zeit tauchten Ideen auf, die ich auf der Stelle hätte umsetzen können. Meine Klamotten waren ja alle noch da, im Koffer oben auf dem Dachboden. Ob Freund Frank noch einmal mit mir einen Tango aufs Parkett legen würde? Mit 80 ist auch er noch ganz schön fit. Dazu würde ich das kleine Schwarze mit den roten Blumen und die knallrote Strumpfhose tragen. Oder auch das andere mit dem roten Kragen. Ach nein, die Klamotten würden mir nicht mehr passen. Und überhaupt wäre Franks Frau niemals einverstanden, dass er mit seiner ehemaligen Freundin Tango tanzen würde.

Mensch in Clownskostüm

Aber vielleicht könnte ich das karierte Küchenmädchen-Outfit anziehen, um noch einmal das alte Küchenlied vorzutragen, in dem das unglückliche Mädchen ihr Haupt auf Schienen legte, bis dass der Zug aus Barmbeck kam. Toll wäre auch der grüne Umhang mit der Geistermaske, vor der nicht nur die Kinder davonlaufen würden. Im Koffer würde ich auch noch den bunten Clown-Anzug finden, könnte mich schminken und wieder mal völlig unerkannt durch die Straßen tanzen. Herrlich!

Und während ich überlegte und nahe daran war, dies alles noch einmal zu wiederholen, brach mir der Schweiß aus. Vor lauter Aufregung begann mein Herz zu rasen, was mich andauernd aus dem Bett trieb. Das aber war nun nicht mehr normal. Das Ganze schien sich immer mehr zu einem krankhaften Syndrom zu entwickeln. Ich bekam Angstzustände und noch mehr Herzrasen.
„Ich glaube, ich muss einen Neurologen aufsuchen“, dachte ich. „Nein, lieber nicht, denn der schickt mich womöglich in die Klapse.“ So beschloss ich, zunächst einmal mit einem Kardiologen zu reden. Der machte ein EKG, kontrollierte den Blutdruck und stellte fest, dass alles in Ordnung sei.

Aber vielleicht spielen ja die Hormone verrückt. Ach ja, ich war eine Ewigkeit nicht mehr beim Gynäkologen. „Auch das muss mal wieder sein“, sagte ich mir. Aber auch hier keine negativen Erkenntnisse. Kam noch der Urologe in Betracht. Der spritzte mir ein Kontrastmittel, machte eine Röntgenaufnahme und erklärte: „Sämtliche Wasseradern sind intakt. Selbst das Überlaufventil des Wasserspeichers zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Alles im grünen Bereich.“

Unsicher, welchen Arzt ich noch aufsuchen könnte, fiel mir ein, dass in der Waldstraße auch so ein „Ologe“ wohnte. Könnte ja sein, dass der vielleicht eine Lösung meines Problems findet, denn irgendwie musste ich doch meine schlaflos-nervösen Nächte in den Griff kriegen. Gedacht, getan. Auf dem Schild an seiner Tür las ich: „Dr. Falko Specht, Ornithologe.“

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte Dr. Specht und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. Auf seinem Schreibtisch fiel mein Blick direkt auf die ausgestopfte Eule. „Das Symbol der Weisheit …“, erklärte Dr. Specht und lächelte. „Und nun zu Ihnen, was führt Sie hierher?“ Ich berichtete vom inhaltsschweren Koffer auf dem Dachboden, meinem Vorhaben und dem furchtbaren Herzrasen in schlaflosen Nächten.

Vogel auf Koffer

Dr. Specht sah mich irritiert an, hielt mich wohl für geistesgestört und griff zu seinem Hämmerchen. Damit klopfte er mir erst auf die linke, dann auf die rechte Schläfe und meinte: „Der Fall ist klar. Sie haben einen Vogel. Dieser Vogel ist in der Lage, Sie auch im fortgeschrittenen Alter noch zu Albernheiten zu verführen. Sie sollten diesem Vogel endlich den Garaus machen, denn diese Albernheiten passen nicht mehr zu Ihnen. Schenken Sie den Koffer ihren Enkeln. Die werden einen Riesenspaß mit den Klamotten haben, und Sie haben endlich Ihre Ruhe.“ Dabei konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ich bedankte mich freundlich und ging mit einem verstohlenen Lachen zur Tür hinaus.

Autor: fleurbleue

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