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Auf dem Schoß des russischen Soldaten

Warnhinweis: Diese Kolumne beschäftigt sich mit dem Thema Krieg und Kriegserfahrungen. Bei manchen Menschen kann das negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, sollte das bei Dir der Fall sein.

Noch sehr genau erinnere ich mich an das Wohnzimmer, in dem ich zusammen mit Walter, Tante Billy, meiner kleinen Schwester und zwei Russen von dem brüllenden Kommandanten eingeschlossen worden war.
Jedoch unfassbar, wie freundlich diese beiden russischen Soldaten zu uns waren. Der eine nahm mich auf den Schoß und begann die vielen Kastanien, die wir gesammelt hatten, auf dem Tisch zu zählen, woraus sich ein spannendes Versteckspiel entwickelte. Der andere saß daneben, schaute interessiert zu und lachte, weil ich nie erraten konnte, wie viele Kastanien sein Kamerad blitzschnell mal unter der einen, mal unter der anderen Hand verschwinden ließ.
Später, als wir aus dem Wohnzimmer wieder befreit waren und alle Russen das Haus verlassen hatten, wurde Frühstück gemacht, so als sei nichts geschehen.
Klar, dass Mutter nun erzählte, was sie in der Zwischenzeit mit den anderen Russen erlebt und vor allem gewagt hatte, als sie diese durch die große Wohnung begleiten musste.

Alle Einzelheiten habe ich hier in Form einer besonderen Geschichte verfasst:

Nachdem die Russen in Erfurt einmarschiert waren, veranstalteten sie Razzien auf der Suche nach Waffen und Munition. Überall herrschte Angst und Schrecken, da sie die Häuser ausnahmslos in verwüstetem Zustand hinterließen.
An einem frühen Morgen im September klingelten sie auch bei uns.
Auf ein Zeichen des Kommandanten stürmten sie in den Garten, blieben aber plötzlich stehen, weil der Kommandant sie zurückgepfiffen hatte und nun auf die schöne Frau in Rot starrte.

Nur knapp hatte sie Zeit gehabt, in ihren Morgenmantel zu schlüpfen. Aber nun stand sie an der Tür und blickte der Meute mit drohend empor gehobenem Zeigefinger entgegen. Nein, niemand würde ihre Angst bemerken, und schon gar nicht die da. Seit langem hatte sie gelernt, ihre Angst zu verbergen.
„Ihr nix kaputt machen! Ihr werdet nix kaputt machen!“ rief sie streng und dachte an die Pistole von Vater, die sie im letzten Moment in der Asche des Kachelofens hatte verstecken können.
Der Kommandant trat näher und betrachtete Mutter in ihrem leuchtend roten Morgenmantel. Ein leiser Hauch von Erstaunen glitt über sein Gesicht.
„D u Frau, D u alle Schränke aufmachen, wir nur gucken.“

Mutter wandte sich um und ging ins Haus. Der Kommandant und die Soldaten folgten ihr.
„Die andere Frau da und die Kinder, alle in Zimmer abschließen!“ befahl er noch und wies auf Tante Billy.
„Nur du schöne Frau mitkommen!“
Mutter spürte ein leises Zittern, denn sie wusste, zu was er und seine Meute fähig sein konnten. Hatte sich nicht das junge Mädchen von gegenüber Kuhmist ins Haar geschmiert, um möglichst abstoßend zu sein? Und hatte Erna nicht einen Tag und eine ganze Nacht im Schornstein auf dem Dach verbringen müssen?

Plötzlich stürzte Walter aus seinem Zimmer:
„Du“, flüsterte er Mutter zu, „die Jagdtasche an der Wand, da sind noch drei Patronen drin. Hab ich total vergessen. Vielleicht schaffst Du es noch, die rauszunehmen. Oh Gott, wenn nicht, bin ich verloren.“
„Du auch da drin abschließen!“ brüllte der Kommandant und stieß Walter in Richtung Wohnzimmer.
„Noch mehr Leute hier?“
„Nein.“
Geduldig wanderte Mutter mit den Russen von Zimmer zu Zimmer, öffnete Schränke und zog jede Menge Schubladen heraus. Sie hoben dies und jenes hoch, schauten nach und legten alles wieder an seinen Platz.
In Walters Büro öffneten sie sofort alle Schubladen des Schreibtisches und kramten darin herum, während Mutter langsam auf die Wand zu schlenderte, an der die Jagdtasche hing. Sie hob die Lasche und nahm die drei Patronen heraus. Die ließ sie blitzschnell in der Tasche ihres Morgenmantels verschwinden und begab sich, scheinbar gelangweilt, auf die Terrasse hinaus.
Und ohne die Soldaten aus den Augen zu lassen, lehnte sie sich an die Brüstung, griff mit der einen Hand nach den Patronen und verschränkte beide Arme auf dem Rücken. Mit der freien Hand tastete sie nach einem Blumentopf hinter sich, nahm die Geranie samt Wurzelballen heraus, legte die drei Patronen hinein, setzte die Pflanze wieder drauf und drückte sie an.

Unterdessen hatten die Russen ihre Untersuchungen abgeschlossen und nichts gefunden.
Als sie endlich das Haus verlassen hatten, fiel Walter meiner Mutter dankbar um den Hals:
„Sie hätten mich auf der Stelle erschossen, wenn ihnen die Munition in die Finger gefallen wäre.“

Drei Patronen

Autor: fleurbleue

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