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Geisterhaus

Als der Wanderer aus den hohen Bergen herab gestiegen kam, war es bereits Abend geworden. Er war müde und durstig und sehnte sich nach einer Bleibe für die Nacht. Gestern hatte er noch im tiefen Wald geschlafen und es war so kalt dort, dass er steif gefroren aufwachte. Der Wanderer war nicht mehr der Jüngste und trotzdem fand er keine Ruhe. Er liebte es, allein zu sein und wenn es möglich war, weit weg von den Menschen zu leben, die ihm oft mit ihrer lauten und fordernden Art sehr fremd vorkamen. Er hatte das Gefühl, dass er eigentlich nicht richtig zu ihnen gehörte.

Haus mit Baum davor

Gerade trat er aus dem Wald, als er in der Abendstimmung ein altes kleines Bauernhaus am Wegesrand liegen sah. Es machte auf ihn einen verlassenen Eindruck. Kein Rauch stieg aus dem Kamin, der aus krummen Backsteinen gemauert war. Das ganze Haus war unverputzt und aus den gleichen, wohl noch handgefertigten Steinen, die unterschiedlich je nach Lehmsorte mehr gelb oder rot gebrannt waren, errichtet. Das Dach war buckelig und es sah so aus, als ob es nicht mehr dem Regen oder Schnee großen Widerstand leisten könnte. Aber eine blaublühende Glyzinie bedeckte gnädig die Blößen des alten Hauses mit ihren mächtigen Blütendolden, die fast das ganze Haus umwucherten und bereits begannen, auch das Dach in Besitz zu nehmen. Der Wanderer blieb vor dem halb geöffneten nur noch lose in den rostigen Angeln hängenden Gartentürchen stehen. Der Hausgarten war verwildert, aber in seiner Wildheit wunderschön. Schon lange hatte hier keine menschliche Hand mehr für Ordnung gesorgt.

Das Gartentürchen knarrte unwillig, als der Wanderer es weiter öffnete, um in den Vorgarten einzutreten. Auf einem kurzen, mit Steinplatten belegtem Wege, zwischen deren Fugen sich Kräuter und Gras gesetzt hatten und die mehr und mehr im Untergrund zu versinken drohten, schritt er gegen die Treppe zu, die zur höher gelegenen Haustüre führte. Diese Treppe war wie alle Treppen in dieser Gegend aus feinkörnigem rotem Sandstein gehauen. Die Stufen, die hinauf führten, mussten sich durch die jahrhundert lange Benutzung in der Mitte ausgetreten haben. Der eiserne Handlauf zum Garten hin schien sich nur noch durch den eigenen Rost vor dem Verfall zu bewahren. Die Haustüre bestand aus schwerem Holz und war noch erkennbar mit hübschen Ornamenten verziert. Der Drücker und das Schloss waren sicher von einem tüchtigen Kunstschmied aus der Umgebung in Handarbeit angefertigt worden.

Der Wanderer verharrte vor der Tür und suchte vergebens nach einem Namensschild. Da es keine Glocke gab, pochte er an die Tür, doch niemand schien ihn zu hören. Vorsichtig bewegte er die Klinke nach unten. Die Türe öffnete sich zu einem dunklen Hausflur zu und er trat ein. Sein Rufen nach einem Bewohner dieses Hauses blieb ohne Erfolg. Niemand antwortete ihm. Vorsichtig taste er sich voran durch diese kühle Dunkelheit, bis er am Ende des Ganges auf eine weitere Tür stieß. Beherzt öffnete er sie und stand in einer ärmlichen Küche, die nur durch ein fast blindes Fenster zum Hof hinaus beleuchtet wurde. Scheu sah er sich um und alles machte einen unbenutzten und ungepflegten Eindruck. Nur der Küchentisch, vor dem ein Stuhl stand, war mit einer buntkarierten rot-weißen Tischdecke versehen.

Auf dem Tisch stand ein sauberer Teller mit Besteck, ein Korb mit einem unangeschnittenen mächtigen Laib Bauernbrot, Käse und einem tüchtigen Stück Speck. Rechts vom Teller stand ein Becher aus schwerem mundgeblasenem Glas und ein Steinkrug, dem man sein Alter ansah. Wieder versuchte der Wanderer durch Rufen jemanden zu finden, aber es kam keine Antwort. Da er sehr hungrig und durstig war, legte er seinen schweren Rucksack ab und setzte sich an den Tisch. Beherzt griff er zum Messer, schnitt sich vom Laib ein großes Stück ab und schnetzelte den Speck in kleine Stücke, die er zusammen mit Brotbrocken in den Mund schob. Aus dem Krug floss roter trockener Landwein in das Glas und um das Glück voll zu machen, musste der Käse zum Abschluss des Mahles den gefüllten Magen schließen.

Kerze auf Tisch

In der Zwischenzeit war es Nacht geworden und Jakob, so wollen wir ab jetzt den einsamen Wandere nennen, zündete eine Kerze an, die auf einem blechernen Halter steckte, die ebenfalls auf dem Tisch zusammen mit einer altmodischen Schachtel Streichhölzer bereit lag. Jakob war satt und nun verlangte ihn nach Schlaf. Der anstrengende Wandertag steckte schwer in seinen Knochen. Auch der Wein hatte seine Schuldigkeit getan und Jakob nahm die brennende Kerze mit dem Leuchter, um sich eine Schlafstatt zu suchen. Längst hatte er es aufgegeben, auf einen Besitzer des geheimnisvollen Hauses zu stoßen und so machte er sich, etwas unsicher auf den Beinen, auf, um nach einem bequemen Lagerplatz Ausschau zu halten. Der Wanderer kannte sich in den alten Bauernhäusern aus und wusste, dass die Schlafstellen immer im oberen Teil zu finden waren. Mit dem Leuchter als Begleiter ging er in den dunklen Gang zurück. Schon wie er zur Küche fand, hatte er die Treppe gesehen.

Holztreppe

Die Treppe war aus Holz gefertigt und die Stufen, die steil nach oben führten, waren genauso ausgetreten wie die Steinstufen, die zur Eingangstür führten. Der Unterschied lag jedoch darin, dass jede der Stufen fürchterliche laute Knarrgeräusche von sich gab und darüber ächzten und stöhnten, dass man von ihnen verlangte, Menschen zu tragen, obwohl sie eigentlich längst in den verdienten Ruhestand hätten versetzt werden müssen. Jakob tastete sich vorsichtig nach oben, um auf einem kleinen Flur anzukommen. Flugs öffnete er die erste Tür und stand wie erwartet in einer Schlafkammer. Sie war ärmlich eingerichtet und enthielt ein schmales Bett, einen Stuhl und eine kleine altmodische Kommode, auf der sich eine noch altmodischere Wasserkaraffe befand, welche mit einem Rosenmuster versehen in einer mit dem gleichen Rosenverzierungen bemalten Waschschüssel stand. Davor lag zusammengelegt ein leinenes Handtuch.

Bett

Das Bett war aus rohem unbehandeltem Tannenholz gefertigt und hatte oben und unten reichgedrechselte Bettpfosten. Es war sauber mit einem weißen Lacken versehen und das Bett selber, so wie auch das hohe aufgepolsterte Kopfkissen, waren Blau-Weiss-Kariert bezogen. Man sah, dass das Bett neu aufgebettet und einladend aufgeschlagen war. Jakob setzte sich auf den einfachen Holzstuhl, nachdem er den Kerzenhalter auf die Kommode gestellt hatte, zog mit einem befreienden Stöhnen die schweren Stiefel von den malträtierten Füssen, zog sich bis auf die Unterwäsche aus, löschte das Licht und legte sich in das wunderbare Bett. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wer das Abendessen und jetzt auch noch die Schlafstatt für ihn hergerichtet und wer wohl der Besitzer dieses geheimnisvollen Hauses sei. Er war so müde und eine Nachtigall aus dem Birnbaum im Hof sang ihn in den Schlaf.

Als er erwachte, lugte der neue Tag durchs offene Fenster und eine Vogelschar war bereits am tirilieren, dass es eine Lust war. Er blieb noch etwas liegen, um zu sinnieren und da fiel ihm ein, dass sich im Traum eine junge Frau in einer alten Schwarzwäldertracht gekleidet an sein Bett gesetzt und ihn liebevoll gestreichelt habe; und sie hatte seine Hand gehalten und er glaubte, auf seinem Mund noch einen warmen Kuss von jungen Lippen zu spüren. "Ach was, dummes Zeug", dachte er sich, sprang aus dem Bett, schüttete Wasser aus der Karaffe in die Waschschüssel, putzte sich die Zähne mit einem Finger, wusch den Schlaf mit einer Portion kaltem frischen Brunnenwasser aus den Augen und zog sich an. Dann ging es knarrend über die alte Treppe nach unten in die Küche, wo sein Rucksack stand.

Alles war noch genauso, wie er es gestern verlassen hatte. Aber der Tisch war abgeräumt, auf der Tischdecke stand eine mächtige mit dampfendem Milchkaffee bis zum Rand gefüllte Schale und daneben ein dicker Ranken Hefezopf, wie er nur im Schwarzwald gebacken werden kann. In einem alten irdenen Milchtopf war als Schmuck ein frischgepflückter Blumenstrauß aus dem wilden Garten hingestellt. „Ich lasse mich nicht lange bitten, mein unsichtbarer Gastgeber“, dachte der Wanderer. Er setzte sich auf den Stuhl, tat einen kräftigen Zug aus der Kaffeeschale und brockte dann, große Stücke vom Zopf abbrechend, in den tiefgründigen Milchkaffee.

Jakob schulterte seinen Rucksack und ging zum Ausgang. Dort drehte er sich noch einmal um und rief ins Haus hinein mit lauter Stimme: „Vielen Dank, du lieber unsichtbarer Gastgeber, wer du auch seist.“ Er schloss sorglich die Haustüre und zog das alte in den Angeln krächzende Gartentürchen hinter sich zu. Nach einigen Schritten blieb er stehen und blickte zurück. Jakob vermeinte, hinter dem Schlafstufenfenster eine weibliche Gestalt erkennen zu können. Er winkte ein Lebewohl dorthin und sandte einen Kuss zu der Unbekannten, welchen er auf seine Handfläche drückte und dann gegen das Haus blies.

Autor: Fiddigeigei

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