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Mein Freund im Schrank

Als ich dich zum ersten Mal entdeckt, damals auf dem „Cola-Ball“, dem angesagten Jugendtreff, schwärmte ich von dir. Seitdem stöckelte ich, stets sonntags schon um 15.00 Uhr nervös zum Bus, nur um Dir „zufällig“ zu begegnen. Du jedoch beachtetest mich überhaupt nicht, obwohl du dies später immer bestritten hast, doch eine „Frau“ bemerkt so etwas.

Unlustig tanzte ich mit Bernd, Holger, Volker und den anderen „Nobodys“, stets dich suchend im Getümmel der glücklich scheinenden Paare, doch es sollte einfach nicht klappen mit uns. Bis mir eines Tages der „Zufall“ zur Hilfe kam, denn viel zu viele Mädchen waren scharf auf dich, diesen drahtigen Jungen, welcher wie James Dean die Zigarette lässig im Mundwinkel trug und dessen Augen wissend, schamlos frech taxierend warend.

Der Tag, welcher mir dich bescherte, war ein Samstag im April. Karin, Irene, Ulla und ich umrandeten gelangweilt den Marktplatz unseres Städtchens. Peter kam, auch Volker mit Manfred und dann plötzlich DU.
Ich erschrak, hatte ich mir doch an diesem Tag die Wimpern nicht getuscht und die blöden Schuhe an, diese kackbraunen mit dem plumpen Absatz. Du warst es ja gewohnt, dass dich die Mädchen mit leuchtendem Blick anhimmelten, dementsprechend cool benahmst du dich auch.
Das übliche Geplänkel pubertärer Unsicherheiten begleitete unsere Unterhaltung. „Wo gehen wir hin“, „ist das so langweilig in unserem Kaff“, „Meine Eltern spinnen, die verbieten mir sogar Roswitas Party!“.

Zuerst bemerkte ich es nicht, dass du mich schon ein Weilchen beobachtet hattest, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich zu „verstellen“, tat mächtig gekünstelt.
Doch dann kam dieser „mega“ Satz, nur an mich gerichtet: „Kommst du mit ins Rex, da läuft ein klasse Western, Rio Bravo…“.

Ich hatte keinen Pfennig in der Tasche und musste spätestens um 19.00 Uhr zu Hause sein, doch das war mir in dem Moment völlig schnurz. Rasenden Herzens willigte ich sofort ein.

Zwei Jugendlichen auf Rädern auf einem Foto aus den 50er Jahren

Und so begann unsere fantastische Zeit, wir küssten und wir stritten uns, du wärmtest eine eiserstarrten Füße in diesem besonders strengem Winter, indem du sie einfach unter deinen Mantel stopftest, auf der Parkbank, der „unsrigen“. Wir trafen uns meist heimlich, denn mein Vater verbot mir jegliches poussieren, doch gelang es uns immer wieder, im hohen Sommergras zu träumen, dies Glück zu spüren, welches jung und so zerbrechlich.


Irgendwann trennten sich dann doch die Wege, aber wir verloren uns nie, zwar wechselten die Jahreszeiten, ohne dass wir uns sahen oder voneinander hörten. Doch es meldete sich zuverlässig immer einer und wir berichteten ausführlich, was sich bisher in unserem Leben ereignet hatte. Unzählige Briefe, später E-Mails, auch das Telefon, halfen uns stets gut informiert zu sein.

Doch die Jahre forderten ihren Tribut, lieb gewonnenes mussten wir loslassen, unsere Eltern starben, unsere Söhne verließen das Haus. Geburtstage rundeten immer schneller und plötzlich waren auch wir Großeltern. Deine Haare verloren ihr aschblond und in deinen Augen entdeckte ich Schatten von Resignation.

Ab und zu trafen wir uns, wenn ich in „unserer Stadt“ weilte, auf einen Kaffee oder zu einem Erinnerungsspaziergang, bemerkten so nebenbei aus den Augenwinkeln die sich verändernden Konturen unserer Körper und Gesichter.

Die Gespräche trugen nun eine andere Farbe, sie entbehrten einer gewissen Leichtigkeit, es fehlte diese Hoffnung, weil unsere Zukunft aufgebraucht war, selbst wenn wir uns gegenseitig beteuerten, welch großes Geschenk doch unsere Freundschaft sei.

Irgendwann hast du dich dann nicht mehr gemeldet, ich lebte inzwischen in einer anderen Stadt, noch weiter entfernt von dir.
Schließlich rief ich dich an einem dieser typischen „grauen Tage“ an, deine Stimme klang leise, brüchig, verzagt. Ich wusste von dieser Krankheit, wusste, dass dir dein Herz immer häufiger seinen Dienst verweigerte und wie sehr dich dies quälte.
Carola, deine Frau, bat mich schließlich, dich nicht mehr anzurufen. Ob dir das recht war, werde ich nie erfahren, ich denke, sie wollte jede „Aufregung“ von dir fernhalten.
Von nun an war der schriftliche bzw. mündliche Kontakt zwischen uns beendet, doch die Gedanken sind frei und mächtig.

Dann rief mich eines Tages Vera an, von ihr hatte ich schon ewig nichts mehr gehört. Sie wollte mir nur mitteilen, dass du gestorben seist.

„Tot, mein Rüdiger?“

„Ja…“

„Wo befindet sich seine letzte Ruhestätte“, fragte ich fassungslos, „denn ich will, nein, muss diese unbedingt besuchen!“

„Das wird nicht möglich sein…“

„Und weshalb?“

„Weil seine Frau Carola die Urne samt seiner Asche in ihrem Wohnzimmerschrank aufbewahrt.“


Autor: galen

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