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Der letzte Brief

Wie egoistisch von mir, traurig zu sein, nur weil du mich nicht erkannt hast bei meinem letzten Besuch.

Du, gefangen in deinem neunzigjährigen Körper, sitzt, versorgt von der Familie deiner ältesten Tochter, in der du seit zwei Jahren lebst, am festlich gedeckten Tisch.

Deine nun nutzlos gewordenen Hände, abwartend, geduldig, ineinander ruhend, jedoch geprägt von einer gewissen Unruhe.

Wer tröstet dich in den dunklen Stunden, wenn der Schlaf nicht kommen mag, und dich seltsame Träume besuchen, von Menschen und Begebenheiten aus früheren Zeiten?

Wer versteht es, dass deine Gedanken sich nicht mehr zurechtfinden und der Körper wichtige Dinge verweigert?

Stapel alter Briefe und einer Schwarz-Weiß-Fotografie

Ich drücke behutsam deine dürren Arme, küsse die verwelkte Wange, nie konntest du dich Zärtlichkeit öffnen, nun aber sehe ich, du lächelst.

In diesem Augenblick leuchtet für drei Sekunden dein rheinisch verschmitztes, mir so vertrautes Gesicht durch diesen unsichtbaren Schleier, welcher dich seit geraumer Zeit von mir trennt.

Wir beide sind sehr verschieden, oft habe ich dich kritisiert, wenn ich total wütend war, auf den Gleichmut, diese Sturheit, und dein Desinteresse, an Dingen, die mir sehr wichtig schienen.
Auch unsere Lieblingsspeisen waren grundverschieden, die politischen Ansichten sowieso.

Deinen schier unermüdlichen Einsatz für die Familie habe ich keinesfalls bewundert, sondern diese Selbstlosigkeit ärgerte mich immer dann ganz besonders, wenn ich das Gefühl hatte, dass zu verzichten bei dir an erster Stelle stand, obwohl ich ja selbst eine Nutznießerin war.

Du hast dir innerhalb der Familie keine Freiheiten gestattet und sollten es mal Interessen gegeben haben, welche Dich außerhalb deines Wirkungskreises verlockten, so habe ich es nie erfahren. Nur deinem Ehemann sowie uns Kindern galt die uneingeschränkte Fürsorge.

Diese kleinen Rückzugsmöglichkeiten bei einer Tasse Kaffee, so stark, dass der Löffel fast drin steh'n blieb, sowie ein Blick auf die Todesanzeigen im Tageblatt, welche du meist mit rheinischem Humor kommentiertes, etwa: "im November wird aber wieder schwer aufgeräumt", gewährten dir eine verdiente Pause.

Und hin und wieder schautest du bei Frau Anselms "Mode Lädchen" vorbei, welches sich etwa 400 Meter stadteinwärts befand.
Später kamst du dann gutgelaunt mit einen Kostümchen oder gar Kleid, zart geblümt von bleu bis beige oder auch blass grün gefärbt, wieder nach Hause.

Nun jedoch sitzt du neben mir, und auf meine Fragen antwortest du mit brüchiger Stimme in unvollständigen Sätzen, und ich möchte dich beschützen, doch wovor kann ich dich schützen?
Simone Beauvoir sagte mal "das Alter ist eine Maske, die uns das Leben aufzwingt, darunter sind wir immer die Gleichen."

Ja so mag es sein, tief in dir bist du gleichzeitig Kind, junge Frau, Mutter und Greisin zugleich, dies führt zu der Erkenntnis, jeder Abschied ist stets auch ein Anfang.

Ich erinnere mich lebhaft an eine besondere Nachspeise, welche du zu unser aller Begeisterung zubereitet, diese bernsteinfarbenen Glasschälchen, in denen sich die Köstlichkeit befanden, standen zum Auskühlen auf dem Küchenfensterbrett und dies Honiglicht, welche die Mittagssonne in das Glas zauberte, werde ich niemals vergessen.

Dein Körper ist nun zu schwach, die selbstverständlichsten Dinge zu erledigen, sie werden für dich jetzt von anderen Menschen übernommen, wenn du mit kurzen unsicheren Schritten den Raum durchquerst, wirst du gestützt; und erschrickst, wenn das Wasser der Duschbrause deinen mageren Körper berührt, die Mahlzeiten sind deinem wechselnden Appetit angepasst.

Oft hörte ich von dir, wenn ich ein Problem hatte: "Lass es erst mal auf dich zukommen", mich ungeduldigen Menschen brachte dieser wohlgemeinte Rat meist auf die Palme.

Nun jedoch ist auf dich *zugekommen, was wir so gerne ausblenden, obwohl es unweigerlich auf uns alle irgendwann *zukommen wird... nämlich das Ende des irdischen Lebens.

Dieser Sonntagmorgen dann brachte mir per Telefon die schmerzliche Gewissheit, dass du nun für immer gegangen von uns und dieser Welt.

Ein letztes Mal betrachte ich dein mir vertrautes nun... regungsloses wächsernes Antlitz.


"Sehe überall deine Taten und spreche von den Werken deiner Hände. (Psalm 143,5)
Der Frieden sei mit dir und fürchte dich nicht, deine Seele sei im Frieden, und unbegrenzten Licht.

Deine Tochter

Autor: galen

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