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Bis an die Ohrläppchen

Der brennende Wunsch Lottas war es, lange Haare zu tragen, entgegen dem Willen ihrer Eltern. Das aschblonde glatte Jungmädchenhaar, gestutzt bis zu den Ohrläppchen, schien ihr kindisch und ihren Vorstellungen nicht genügend, dem heimlichen Traum einer elegant im Nacken gerollten „Banane“ (wie bei Grace Kelly) zu entsprechen.
Lotta verbarg gekonnt das zaghafte Wachsen ihrer Haare, sie verbarg mit einer Haarklammer die seitlich schon keck bis über die Ohren ragenden Haarspitzen sorgsam. Bei Tisch achtete sie stets darauf, dass der Vater, welcher seinen Platz dem ihren gegenüber innehatte, nicht bemerkte, dass ihre Haare bereits schon eine hübsche Länge erreicht hatten.

Die ältere Schwester Margit quälte seit Lottas Geburt geschwisterliche Eifersucht. Doch Lotta vergaß dies für einen Moment, zu sehr beschäftigte sie das zunehmend länger werdende Haar, vor dem Vater zu verbergen. Sie erhoffte sich einen Rat von der acht Jahre älteren Schwester und erbettelte eins von den Gummibändchen, welche diese in einer Schachtel hütete. Abfällig schaute Margit auf die zugegeben noch unschönen fransigen Haarsträhnen, das schaffst du niemals, urteilte sie!
Und wenn ich es hochbinde?

Lotta hob ihre Nackenhaare Richtung Oberkopf ----- tzzzz tzzzz ----- Margit zischelte höhnisch, dein Haar ist viel zu dünn, gib es auf, lange Haare stehen dir einfach nicht!
Lotta erwartete nun keine Unterstützung mehr von der Schwester, doch ihren Traum aufzugeben kam nicht in Frage. Sie besorgte sich von ihrer Schulfreundin Iris drei weitere Haarklammern, versteckte mit deren Hilfe geschickt besonders unordentliche Haarzipfel und präsentierte sich stets tadellos „ohrfrei“.

Sonntagmorgen, frischer Kaffeeduft, der Kuchen, welchen die Mutter samstags buk, Streusel, Butter, Hefekranz, auf den Tellern der sechsköpfigen Familie. Der jüngere Bruder bemäkelte seine kratzenden Kniestrümpfe, der Ältere das zu steife Sonntagshemd.

Lotta?
Der Vater richtete freundlich, jedoch streng das Wort an die jüngere Tochter. Wie ich hörte, möchtest du deine Haare wachsen lassen, ist das wahr? Lotta erstarrte, sie antwortete nicht, denn sie wusste zu gut, was sie nun erwartete.

Du kennst meine Ansicht, ich möchte, dass du dein so Haar trägst, WIE -- ES -- DEINE – ELTERN -- WÜNSCHEN! Für Morgen habe ich Herrn Langkammer (den Hausfriseur der Familie) bestellt, die Buben sind sowieso dran, und du bekommst dann auch dein Haar gekürzt, und zwar wie immer, exakt bis zu den Ohrläppchen.

Der geliebte Hefewickelkuchen, mit den köstlichen Rosinen und dem rostbraunen Zimt verschwamm, Lotta verschluckte die nicht geweinten Tränen gemeinsam mit dem süßen Teig.
Margit, bat erneut um ein Stückchen Butterkuchen, zufrieden grinsend genoss sie das zuckrige Teilchen.
Doch Lotta gab der Familie keinerlei Chance, teilzunehmen an ihrem Schmerz, der Enttäuschung, Ohnmacht, und grenzenlosen Wut.

Mädchen beim Friseur

Autor: galen

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