Anne und Ludger

Anne legt den politischen Teil der Tageszeitung auf Ludgers Tischset. Dieser studiert angespannt den Wirtschaftsteil, die Aktienkurse erregen seine besondere Aufmerksamkeit. „Anne, wir verkaufen ABB, die Umlaufrendite ist passabel“, „Der Euro zum Dollar auch?“, fragt Anne, „Ja so sieht es aus, Veränderungen zum Vortag nur 0,39%“. Sie füllt den Geschirrspüler und überlegt, ob sie einen Termin in der gerade eröffneten Wellness-Oase vereinbaren sollte, Carola war kürzlich dort und enorm begeistert.
Ludgers gelifteter Forester 230 Turbo PS ließ ihn auch heute nicht im Stich, er lenkt ruhig in dem Bewusstsein, den anderen Verkehrsteilnehmern überlegen zu sein, das Gefährt in die Korfstraße.
Mit Carsten, einem früheren Studienkollegen aus Mannheim, hat er sich vor etwa 3,5 Jahren selbständig gemacht, die beiden designen alle gebräuchlichen Dinge um Haus, Hof und Garten. Carsten trägt ebenso wie Ludger seinen Kopf unbehaart und kleidet sich vornehmlich schwarz.
Was Formen und Farben betrifft, sind sie völlig überein, ihr Privatleben allerdings trennt Welten. Ludger lebt mit Anne eine selbstbestimmte Partnerschaft, ohne Kinder, jedoch anregendem kunterbunten Freundeskreis. Carsten liebt einen Mann und die beiden bevorzugen eher die altbackene Form des Zusammenlebens, vergleichbar einer piefigen Heteroehe. Geschäftlich jedoch führt sie ihr angeborener Spürsinn zum finanziellen Erfolg, speziell unentschlossene Kunden können sie überzeugen, eigentlich völlig Überflüssiges dringend zu benötigen.

Anne, eine studierte Argrarökonomin, sitzt auf einer ¼-Stelle des renommierten Naturschutzbundes LEAWL (Lasst Endlich Allen Wesen Lebensraum). Einige Projekte konnten nicht zuletzt dank ihres enormen Einsatzes verwirklicht werden. Engagiert bringt sie sich ein, in der Hoffnung, die Stelle ausbauen zu können, vielleicht gar zu festigen.

Mit ihrer besten Freundin Thea kann sie vieles besprechen, oft sogar auch klären, sie treffen sich einmal die Woche im „Blendulf's" einem angesagten Bistro ihrer Clique.
Ludger wagt des Öfteren einen Ausflug ins Milieu und erleichtert sich bei Rosanna, welche dafür großzügig von ihm entlohnt wird. Ab und an versucht er Anne in fast kindlichem Übermut Details zu schildern, dabei überschwänglich Rosannas Einfallsreichtum lobend, Anne blockt jedoch brüsk ab, er versteht dies, denn die Freiräume des anderen werden strikt respektiert.

Zu einem komplizierten Unternehmen schien dieses Jahr ihr gemeinsamer Urlaub zu werden. Ohne sich etwas Böses zu denken, schlug Ludger, vor die Kapverden anzusteuern, Anne fand dieses Ansinnen total spießig, „Da können wir ja gleich im Göta-Kanal Schleusenhopping machen.“ Allen Ernstes sie möchte eine Reise von Petrosawodsk nach Archangelsk buchen. Nicht zuletzt lebt Ludger wegen Annes ausgeprägten Sarkasmus‘ gern mit ihr, aber dies ging ihm dann doch zu weit.
„Schau, Anne wir sollten gewillt sein, eine Einigung herbeizuführen“, er sprach leise, fast zärtlich. Anne, bemüht auch in aussichtslosen Situationen eine Lösung zu finden, meint, „Wir könnten in Stavanger ein Bötchen mieten. Dann über Björneimsbygd bis hinauf nach Knutvik fahren?“
Ludger überlegt einen Moment. „Versprich bitte, dass wir unbedingt den herrlichen Lysefjord mit einplanen.“ „Abgemacht!“ Froh, nun diese schwierige Aufgabe gemeistert zu haben, fragt Anne lächelnd: „Haben wir uns heute gebratene Wachtelbrüstchen mit Frühlingsgemüse auf Morchelkartoffelplätzchen an Hummeressenz verdient?“
„Nur wenn du mir versprichst, mein Augenstern, dass wir nächstes Wochenende einen Flug nach Modena buchen, ich möchte zu gern in der Osteria Francescana nochmal „den Aal, der durch den Po schwamm“ kosten.“ Selig schließt er bei dieser Vorstellung die Augen und wählt die vertraute Nummer des La Croix Blanche, gleichzeitig beäppt er Carsten: „Sind gegen 23:00 Uhr im Blanche, wär funky mit euch die Horsd‘ oeuvre zu teilen.