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Ingrid erlebt den Aufstand der Frauen

Der Briefträger wedelte lachend mit einem Brief durch die Luft und rief mir zu: “Da möchte Ihnen jemand einen ganzen Arm voller Blumen senden!!!“ So schrieb nur die Tochter meiner Freundin. Die zwei luden mich ein. Das passte mir gut, denn ich wollte gerne zu meiner bevorzugten Winzerei fahren. Unsere Weinbestände hatten sich arg verringert. Der Besuch beim Winzer machte mir immer wieder Vergnügen. In den Ort hineinfahren, zwei mal links, einmal rechts und am Ende der Straße durch das große hölzerne Tor.

Der Winzer hatte mich erkannt und kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen. Als er meine Wünsche hörte, führte er mich zuerst in seine Probierstube. Dort ließ er mich dann verschiedene Weine kosten, erzählte mir von seinem Großvater, welcher vor vielen Jahrzehnten das große Glück hatte, mehrere Felder eines aufgelösten Klosters in Spitzenlage zu kaufen. Sehr gern zeigte er mir seinen Weinkeller, in dem auch einige Kostbarkeiten lagerten. Die älteste Flasche stammte aus dem Jahr 1934. Das brachte mich auf die Idee, der Tochter eine Flasche ihres Geburtsjahres zu schenken. Bei der Weinprobe bedauerte ich, dass ich mit dem Wagen unterwegs war. Mir gefiel das Zeremoniell des Kostens so gut, dass ich es gerne ausgedehnt hätte.

Guter Stimmung fuhr ich an diesem sonnigen Herbsttag weiter am Ufer der Mosel entlang. Obwohl ich beim Verkosten sehr vorsichtig gewesen war, entschloss ich mich, in den nächsten Ort hineinzufahren. Ein kleines Essen war jetzt genau das Richtige.

In einer schmalen Gasse schallte aus einer offenen Tür ein Chor: „Warum ist es am Rhein so schöööön?“ Wir waren zwar an der Mosel, und die Stimmen klangen ein wenig unsicher in der Tonlage, insgesamt aber sehr fröhlich. Vorsichtig lugte ich um die Ecke und was sah ich? Eine Gruppe von etwa zwanzig weißhaarigen Rentnerinnen, die - sich dabei zuprostend -, aus voller Kehle fröhliche Trinklieder sang. „Trink, trink, Schwesterlein trink, lass doch die Sorgen zuhaus ...“. Ich wurde entdeckt, die Gesichter strahlten mich an, einige Damen winkten mir zu. Ich sollte doch kommen und mich zu ihnen setzen. Das machte ich gern. Der Wirt brachte mir einen Handkäs mit Musik, und vorsichtshalber ein Glas Wasser.

Zwischen dem Singen konnte ich einige Fragen loswerden. Woher sie kamen, wollte ich wissen. Aus Sachsen und Thüringen kamen sie. Ein Busunternehmer machte jährlich mehrere Fahrten dieser Art. „Nach der Wende waren wir Rentnerinnen plötzlich reich“, berichtete ein kleines zierliches Persönchen. „Wir alle sind reiselustig und nutzen jede Gelegenheit aus, um aus dem tristen Alltag auszubrechen.“

Eine der Damen versuchte es zu erklären. „Wie war es denn früher bei uns auf dem Land? Wir waren zuhause immer eine große Kinderschar. Die älteren Mädchen mussten bis zu ihrer Heirat die jüngeren Geschwister versorgen. Zur Schule gehen durften nur die Jungen. Die Mädchen hatten Glück, wenn wir von den Brüdern lesen und schreiben lernten. Wir verstanden etwas von Hauswirtschaft, das war aber auch schon alles. Kurz nach unserem 15. Geburtstag wurden wir verheiratet. Wir jungen Frauen ahnten nicht, was von uns an ehelichen Pflichten verlangt wurde. Wir wussten, wir hatten dem Mann zu gehorchen und möglichst viele Kinder zu gebären. Meine Großmutter und Mutter und deren Mütter hatten es so erlebt. Ganz leise flüsterte mir meine Nachbarin zu: „Die Liebe lernte ich während meines Lebens nicht kennen.“

„Wir Rentnerinnen haben so viel nachzuholen“, erklärte mir schmunzelnd eine Seniorin. Alle Frauen nickten zur Bestätigung. „Wir haben heute eine eigene Rente. Heute können wir reisen, wohin wir wollen. Wir wollen unseren Männern nicht mehr gehorchen. Wenn es ihnen nicht mehr gefällt“, erklärten sie mir, „so können sie doch gehen. Die meisten Männer sind zwar frustriert. Sie verstehen uns Frauen nicht mehr, früher funktionierten wir so gut!!! Doch kaum einer der Männer geht wirklich. Die sind an die Kost gewöhnt, die wir ihnen nach unserem Urlaub wieder servieren“, lachte schelmisch die Dame neben mir.

Ein wenig nachdenklich brach ich auf. So hatte ich die jahrhundertelange Unterdrückung der Frauen noch nie betrachtet. Bei meinem Besuch konnte ich dieses Mal eine wirklich spannende Geschichte erzählen. Und wir drei Frauen würden glücklich sein, im 21. Jahrhundert zu leben, welches uns Frauen je nach Talent und Interesse jede Möglichkeit zum Lernen bietet. Wir können tun, wozu wir Lust haben. Wir haben einen Beruf erlernt, mit dem wir ausreichend Geld verdienen, um davon zu leben. Wir suchen uns selbst einen Mann, mit dem wir das Leben teilen möchten und wir entscheiden selbst, wie wir unser Leben gestalten wollen. Wir erleben die Liebe und geben sie weiter. Diese Chancen hatten die Frauen vergangener Generationen nicht.

Während ich zum Auto zurückging, hörte ich sie wieder, die fröhlich singenden Frauen und hatte große Lust, laut mitzusingen:


„Freunde, das Leben ist lebenswert...“

Autor: Zwillingsjungfrau

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