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Ingrid, die starke Frau

Weihnachten stand vor der Tür. Der Zeitablauf wurde durch Hektik bestimmt. Während der skizzierten Ausarbeitung der geplanten Zeitabläufe, der Menuevorschläge, der Einkäufe in überfüllten Kaufhäusern, der anderen zehn übernommenen Aufgaben und unaufschiebbaren Verpflichtungen formte sich in Ingrid der Gedanke, wie viel Zeit blieb eigentlich für die eigenen Bedürfnisse. Sie stellte sich eine Uhr vor, die sie minutengleich einteilte. Sie notierte, wie viel Zeit sie für die einzelnen Aufgaben auf-wandte und wie viel für die eigenen Wünsche, Träume, Bedürfnisse und Erholungsphasen übrig blieb. Dies waren Null Minuten.

Da Ingrid sich total überfordert fühlte, beschloss sie, im Familienkreis darüber zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Dies stieß jedoch auf Erstau-nen.

Ingrids Mann reagierte überrascht: "Du bist den ganzen Tag im Haus, da kannst Du Dir Deine Zeit doch einteilen. Du weißt, wie eingespannt ich in meinem Beruf bin. Ich brauche dringend Hintergrundwissen über die Reaktionen der Opec-Staaten auf die letzte Ölkrise. Deshalb wollte ich Dich gerade bitten, ob Du für mich rasch mal bei der Tageszeitung vorbeischauen und im Archiv entsprechende Artikel raussuchen kannst.“"

Ihr Sohn war ebenfalls stark eingespannt, er versuchte, eine knifflige Rechenaufgabe zu lösen. Ausnahmsweise hatte er keine Wünsche, sondern murmelte nur geistesabwesend: "Mama, Du packst das schon."

Eine häufig zum Klönen anwesende ältere Nachbarin wurde gefragt und gab zur Antwort: "Ingrid, Du weißt, wie gern ich dich habe. Meine Kräfte haben sehr nachlassen. Helfen, nein, das kann ich nicht. Du schaffst das schon. Ich erzähle immer wieder allen meinen Freundinnen, wenn wir Dich nicht hätten, ...! Kannst Du für mich schnell noch neue Batterien für mein Hörgerät besorgen, dann kann ich die Weihnachtslieder besser hören?"

Da stürmt die Tochter der Nachbarin, bei Ingrid fast zur Familie gehörend, herein. Ingrid wurde umarmt und bekam ein Küsschen auf die Wange. Sie will gerade verwundert nachfragen, da äußert das Nachbarskind schon seine Wünsche. "Ingrid, du kannst doch immer alles. Sieh mal, auf meinem Lieblings-T-Shirt ist ein Fleck. Heute nachmittag habe ich ein Date mit einem ganz tollen Knaben, das T-Shirt brauche ich dringend. Er ist ja so süß, ich muss sonst nackt gehen. Bitte, bitte, kannst du ..."

Vorsichtig versucht Ingrid, sie zu bitten, ihr dafür zu helfen. Auf dem Gesicht des Nachbarkindes spiegelt sich ihr Erstaunen. "Ingrid", fragt die Lütte "weißt du denn nicht mehr, wie es bei dir war. Ich brauche wirklich jede Minute für meine Vorbereitungen, vielleicht nach Weihnachten?"

Total genervt, bat Ingrid in einem Gespräch eine Freundin um Rat. Sie fragte diese: "Woran liegt es, dass ich die Last trage und andere es sich durch meine Planung, Fürsorge und aktives Umsetzen wohlergehen las-sen?" Die Freundin hatte darauf nur eine Antwort: "Du wirkst so stark und so perfekt, dass alle Dir die übernommenen Aufgaben gerne überlassen. Außerdem wissen wir alle, Du hast Nerven wie Drahtseile."

Ingrid packte Zorn, Verbitterung und Enttäuschung. Am liebsten würde sie fortlaufen, irgendwohin, vielleicht auf eine einsame Insel, um dort das Glück, die Zufriedenheit und die Liebe zu sich und für sich selbst zu suchen. Weihnachten, das Fest der Familie, das Fest der Liebe, der Tag, an dem wir die Geburt des Heilands feiern, der uns Erlösung bringt und das Himmelreich verspricht, all dies möchte Ingrid gefühlsmäßig erfassen und erleben. Weglaufen war keine Lösung.

Gab es überhaupt diese einsame Insel des Glücks, der Liebe und Besinnung? Vielleicht war diese Insel bereits in Ingrid vorhanden? Was nützte es Ingrid, all ihr Bestreben darauf auszurichten, dass es den geliebten Menschen gut ging? Wie wichtig war sie sich selbst? Das NEIN-Sagen hatte sie nie gelernt. Deshalb machte Ingrid weiter wie bisher.

Da das neue Jahr mit all seinen "Guten Vorsätzen" vor der Tür stand, plante Ingrid, für sich selbst auf die bereits lange Liste zusätzlich folgendes hinzuzusetzen: "mehr Zeit für mich". Irgendwann musste sie einmal zu sich selbst kommen, um Kraft zu schöpfen, und ganz wichtig, um zu lernen, auch einmal liebevoll aber bestimmt NEIN zu sagen.

Autor: Zwillingsjungfrau

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