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Ingrid als Lehrerin

Meine Freundin Paula rief an und bat um Hilfe. Ihre Stimme klang aufgeregt. "Ingrid, ich hab ein Problem, bitte hilf mir. Ich hab heute eine Stunde mit meinen fünf Nachhilfeschülern. Ausgerechnet für heute habe ich einen dringenden Termin, den ich nicht verschieben kann. Kannst Du sie bitte bei beaufsichtigen?"
Ich sagte zu und war pünktlich bei der angegebenen Adresse. Die Kids, Schüler einer Gymnasialklasse, etwa 14 Jahre alt, sahen mich erstaunt an. Kurz erklärte ich, dass ich heute aushelfe und bat die Kinder, zu beginnen. Die Kids schauten sich an. Sie hatten sich scheinbar auf irgendetwas geeinigt. Sie sahen einen Jungen an und nickten ihm zu. Ein Junge löste sich aus der Gruppe und kam zu mir. Was kam nun, etwa Meuterei? Er trat auf mich zu und stellte sich höflich vor: "Ich bin Konrad. Wir haben heute keine Lust zum Arbeiten. Wir möchten abstimmen. Sie sind doch auch für Gleichberechtigung?"
Im ersten Moment war ich sprachlos, doch dann musste ich innerlich schmunzeln bezüglich der Pfiffigkeit, sich vor Arbeit zu drücken. Es erinnerte mich an meine Schulzeit, in der wir auch immer wieder versucht hatten, eine Aufgabe nicht zu machen. Wie sollte ich reagieren? Die Kinder sahen mich erwartungsvoll an. Im Türrahmen war leise die Mutter aufgetaucht, die ebenfalls sehr interessiert zuhörte.
"Soso, ihr möchtet heute nichts tun und beruft euch auf Gleichberechtigung." Ernst schaute ich alle an. "Konrad, was bedeutet gleichberechtigt?" "Dass alle zusammen abstimmen", meinte er. "Richtig," antwortete ich, "es kommt von Gleich. In einer Gruppe bedeutet Gleichheit, jeder respektiert jeden, weil alle das Gleiche wissen. In jeder Gruppe gibt es aber einen, der mehr weiß, stärker oder älter ist, der übernimmt die Führung, der wird Chef. Das kennt ihr, nicht wahr?" Sie nickten, das verstanden sie.
"Konrad, in dieser Gruppe bist du der Sprecher für deine Freunde und du möchtest Führer oder Chef werden? Du möchtest mitbestimmen? Ich verstehe deinen Wunsch. Dazu brauchst du aber das gleiche Wissen wie ich, die ich heute eure Chefin bin. Solange du dir dieses Wissen nicht erarbeitet hast, gehörst du zu der Gruppe, die dem Führenden, dem Chef folgt. Was glaubst du, was brauchst du, um Chef zu werden?" Konrad schaute mich an und zuckte mit den Schultern. Also zählte ich auf:
"Du musst mehr wissen, als der Rest der Gruppe
Du musst älter oder reifer sein als die anderen,
Du musst bereit sein, dein Wissen mit anderen zu teilen."
Jedes der Kinder schaute ich intensiv an. "Und wie ist es bei Euch? Möchtet ihr ebenfalls gern Chef werden?" Die Kinder nickten.
"Dann müsst ihr demjenigen, der euch von seinem Wissen etwas gibt, zuhören und verstehen; ihr müsst lernen, lernen und nochmals lernen. Euch muss klar sein, das macht ihr nur für euch, denn ihr wollt Chef werden, und ihr müsst es freiwillig tun."
Erneut wandte ich mich an Konrad. "Hast du es begriffen? Erst dann, wenn du mehr weißt als die anderen und deiner Gruppe helfen willst, hast du eine Chance, Führer oder Chef zu werden. Dann hast du es geschafft. Erst dann seid ihr oder Du Konrad mit mir als eurer heutigen Lehrerin gleichberechtigt. Und nun setzt euch und fangt an. Da euch das Thema sehr interessiert, schreibt etwas über Gleichberechtigung und Unterdrückung.
Die Kinder setzen sich, holten ihre Hefte raus und begannen zu arbeiten. Die Mutter an der Tür zeigte mir ihren hoch erhobenen Daumen und zog sich dann leise zurück. Als ich meiner Freundin später von dem Gespräch berichtete, meint diese lachend: "Besser konntest du die Motivation und Lernlust nicht wecken. Gut gemacht. Jetzt weiß ich ja auch, auf wen ich im Notfall zurückgreifen kann."

Autor: Zwillingsjungfrau

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