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Etti hat das Wort: Herbstgedanken

Später als geplant, hatte ich den Entschluss gefasst, in den Vorruhestand zu gehen. Der Herbst lauerte gerade vor dem Bürofenster, als ich mich von meinem Schreibtisch verabschiedete - ein lauernder Herbst, wie ein Panther vor dem Sprung bereit, mich zu vereinnahmen.

Ein neuer Lebensabschnitt hatte also begonnen. So sehr ich mich auch auf den „Ruhestand“ freute, brauchte ich schon eine Weile, mich ans Nichtstun zu gewöhnen. Erst war mir, als hätte es mich aus der tosenden See ins seichte Wasser gespült. Die plötzliche Stille tat weh. Da war nun Zeit - Zeit, die ich mir gewünscht hatte, doch sie lähmte. Schon das Wort „Zeit“ machte mir plötzlich Angst.

Dann war da noch diese Leere in mir, wo doch vorher meine Welt in Ordnung schien - die Tage ausgefüllt waren. Und wenn ich morgens, bevor ich zur Arbeit ging, in meinen vorteilhaft beleuchteten Spiegel sah, fand ich auch an mir nichts auszusetzen. Nun aber fühlte ich mich alt und farblos wenn ich in den Spiegel sah, und wenn dann dieser verflixte hinterlistige Herbst noch die Sonne anknipste, glaubte ich, ihn sogar schadenfroh kichern zu hören: „Das sind die Jahre, hihi, das sind die Jahre“.

Du hast gut lachen, dachte ich, dir können die Jahre nichts anhaben. Du wirst immer wiederkommen, wie du gegangen bist, als Herbst, schön oder hässlich, wie es dir gerade so passt. Doch ich, werde nur einen Herbst haben.
Inzwischen hab ich mich längst mit ihm versöhnt. Er kann ja sehr schön sein - aber launisch - launisch wie das Leben, denn wie im Schlusssatz einer Sonate die Höhepunkte noch einmal erklingen, spielt er mit den Facetten von Sommer Herbst und Winter. Doch mit ein wenig Glück, verschenkt er auch manchmal noch einen Frühling...

Inzwischen genieße ich es, nur tun zu können, was mir gefällt. Viel zu viel, wie Paul meint, denn leider kann ich nicht „nein“ sagen, und somit gehen die „Verpflichtungen“ ins Uferlose. Zeit zum Schreiben muss ich mir manchmal stehlen. Aber das wird sich ändern - hoffentlich!! Alter hat aber auch angenehme Seiten, jetzt ruhen wir sogar mittags nach dem Essen.

Seit ich nun im Ruhestand bin, war schon oft Herbst. Seit einer Woche ist er wieder da, launisch wie immer. Gestern zeigte er sich den ganzen Tag golden, nachdem er in der Nacht mächtig herumgespritzt hatte. Als ich am Nachmittag einen Spaziergang über den Friedhof machte, glitzerten immer noch Tropfen im Strauchwerk. Ich setzte mich auf eine Bank und genoss die noch wärmende Sonne.

Heute, ganz still und leise, hüllt er alles in Nebelschwaden. Obwohl schon fast Mittag, hat er immer noch nicht seine weißen Fahnen eingezogen. Sie hängen zwischen Bäumen und wehen am Fenster vorbei.
Paul verzieht sich trotzdem in seinen Wald – Paul, der einsame Waldgänger. Ungewöhnlich früh ist er heute aufgebrochen. Im Wald ist er glücklich. Mit ihm erlebt er jede Jahreszeit. Und wenn Bagger und Planierraupen Waldwege in Asphaltbänder zwingen, das beunruhigt ihn sehr. Pauls Herbst währt schon viel länger als meiner, und ihm hat er sich total angepasst. Er ist noch stiller und verschlossener geworden. Ich hole mir ein Glas Wasser, setzte mich in Pauls Sessel und höre Musik. Herbst vor dem Fenster und Tschaikowskys Fünfte machen schon ein wenig nachdenklich und melancholisch. Aber eine andere Musik, eine, die aufheitert, würde ich jetzt nicht hören wollen, denn gerade diesen Augenblick will ich genießen. Ich mag den Herbst sehr, mag ihn mit all seinen Stimmungen, möchte mich manchmal regelrecht einlullen in seine leise Traurigkeit.

Ganz plötzlich verzieht sich der Nebel. Wind ist aufgekommen. Verstohlen schleicht sich die Sonne zu mir ins Zimmer, drängelt sich durch das Gardinenmuster, das wie zerbrochen auf meinem Schoß liegt. Ich öffne einen Spalt das Fenster - sofort greift der Wind nach den Vorhängen, beginnt mit ihnen zu spielen, lässt Sonnenscherben durchs Zimmer tanzen. Sonnenscherben… Eigentlich waren es immer Scherben, die auf meinem Weg verstreut herumlagen. Dabei hatte mir einmal jemand ins Poesiealbum geschrieben: „... Sonne auf allen Wegen...“, Doch da hatte ich erst begonnen, meinen Weg zu gehen. Der wehende weiße Tüll weckt Erinnerungen - Erinnerungen an das kleine Mädchen, das ich einmal gewesen war, und das Muttis ausrangierte Tüllgardine über alles liebte. Mit ihr träumte ich, als Braut zum Altar zu schreiten oder eine Ballerina zu sein. Viele Träume spukten damals in meinem kleinen Kopf herum. Der Krieg hat sie ausgelöscht, die Kinderträume, und später, als er dann vorbei war, auch die Jugendträume. Und jetzt trägt sie mir der Wind ins Zimmer, und das, mitten in meinen Herbst.

Die Sonne lockt, und ich entschließe mich, in den Garten zu gehen. Staudenbeete müssen geordnet und Sträucher beschnitten werden. Vor allem der Strauch an der Hauswand, er wuchert schon über den Weg. „Jelängerjelieber“, komischer Name für einen Strauch. Ich nehme die Schere - ritsch ratsch, weg damit - je kürzer je lieber, denn im nächsten Jahr wird er sich wieder ausbreiten. Wie herrlich die Astern blühen! Ihr flammendes Rot, ihr leuchtendes Gelb, übertrumpft alles noch Blühende. Wäre es ein Bild von Paul, ich hätte sicher entsetzt ausgerufen: „Das Rot ist doch viel zu grell!“ Vogelscheuche Emma ist auch nicht mehr sommerfrisch. Sie sieht jämmerlich aus. Ihr Hut hängt schlaff. Auf Bluse, Rock und Schürze haben Vögel ihre Spuren hinterlassen - eine Respektlosigkeit! Genauso respektlos zeigt sich das Amselmännchen. Seelenruhig sitzt es dicht vor mir in der Vogeltränke und verspritzt mit seinen Flügeln das Wasser nach allen Seiten, ohne von mir Notiz zu nehmen. Die ein Hand tief in meine Rocktasche vergraben in der anderen angriffsbereit die Schere, schlendere ich lustlos über die Wege. Soll ich oder soll ich nicht? Ist etwa mit dem Angriff auf „Jelängerjelieber“ mein Arbeitseifer schon erschöpft? Ich glaube, er ist es!

Obwohl es für ein längeres Verweilen auf der Bank zu kühl ist, setze ich mich einen Augenblick. Mein Blick geht zu der alten Grenzmauer. Wie hübsch doch eine abgebröckelte Mauer sein kann, wenn sich Blumen vor ihr wiegen. Und wie herrlich noch die Herbstzeitlose blüht. Aber deren Tage sind schon gezählt. Sie wird sich wie immer aus dem Staub machen, noch bevor der Herbst sich voll entfaltet haben wird. - Herbstzeitlos ... Möchte ich meinen Herbst missen? Nein, ganz gleich was kommen mag, auf keinen Fall will ich das Finale verpassen.

Autor: Rosewittchen

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