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Kurzgeschichte: Ingrid hat ein Vorurteil

Ingrids Herzenskind, Enno, mit seinen zweieinhalb Jahren ein ständiger Quell der Freude, bringt das Lachen ins Haus. Flink auf den kleinen Beinen wie ein Wiesel, kennt seine Entdeckerfreude keine Grenzen. Sein Mund steht nicht still, alles gilt es zu erforschen und hat er etwas gefunden, das er noch nicht kennt, wird es so lange probiert, bis er weiß, wie es funktioniert. Sein Lieblingswort ist "Warum?" So fragt er an einer Glastür mit einer Lichtschranke: "Warum weiß die Tür, dass ich komme?" In einer Kirche wird ihm erklärt, dies sei das Haus Gottes. Er schaut sich um und meint: "Warum hat Gott hier kein Bett?" Er bemalt die Tapeten seines Kinderzimmers und fragt Ingrid: "Warum gefällt es dir nicht? Bunt ist es viel hübscher." Beim Spiel mit seiner Kugelbahn fragt er: "Warum rollt die Kugel immer nur runter und nie rauf?" Für sein Alter ist er weit, er ist „trocken“ und darf deshalb an einem Vormittag pro Woche in den Kindergarten. Den älteren Kindern kann er sich gut anpassen, die Aufgaben erfasst er rasch und erfüllt sie ohne Schwierigkeiten. Er ist ein wahrer Sonnenschein. In Ingrid ist ein warmes strahlendes Glücksgefühl, wenn sie ihn nur anschaut.

Ende 1966 passiert das Schreckliche.

Von einem Tag auf den anderen erkrankt Enno schwer an einem Brechdurchfall. Der behandelnde Hausarzt bekommt den Flüssigkeitsverlust nicht zum Stehen, er ist ratlos, doch von seinem eigenen Können so sehr überzeugt. Er kommt dreimal täglich, will Enno aber nicht in ein Krankenhaus überweisen. „Das bekomme ich wieder in den Griff“, sagt er. „Wenn wir jedes Kind mit einem Brechdurchfall in ein Krankenhaus geben würden, wären sie rasch überfüllt.“ Ein paar Tage lang geht das so, bis Enno ins Koma fällt.

Erst jetzt ist der Arzt bereit, Ingrid und ihren Sohn in ein Kinderkrankenhaus zu fahren. Der aufnehmende Arzt ist entsetzt. „Warum nicht einen halben Tag früher, warum so spät?“ Auf diese Frage des Krankenhausarztes antwortet der Arzt nicht. Konsequenzen befürchtet er nicht. 1966 will das "Zu spät!" kein Arzt schriftlich bestätigen. Die Götter in Weiß schützen sich gegenseitig.

Zu damaliger Zeit war das Universitätskinderkrankenhaus eine Übergangslösung. Es bestand Raumnot. Ein Teilbereich der Stationen war in einem Luftschutzbunker untergebracht. In diesem Krankenhaus gab es keine Patienten- oder Elternwartezimmer.

Ingrid darf nicht mit auf die Isolierstation. So steht sie in der zugigen Halle im Eingangsbereich, geht ein paar Schritte, lehnt sich an die Wand und wird wegen ihrer Tränen angestarrt. Dies erbarmt einen hereinkommenden Arzt; sie wird kurzentschlossen in die Krankenhausbibliothek gesetzt.

Nun heißt es warten, ob das Leben ihres Sohnes gerettet werden kann. In der Bibliothek ist es still. Die im Raum Anwesenden, es sind in dieser Nacht und in den frühen Morgenstunden nur wenige, vermutlich zwei Studenten, eine Krankenschwester, ein ausländischer Arzt, arbeiten leise über ihren Büchern. Ingrid fühlt sich so elendig wie noch nie in ihrem Leben. Sie friert und zittert, doch gleichzeitig steht ihr der Schweiß auf der Stirn, ihr ist übel. Mal ist sie unruhig und möchte wie ein gefangener Tiger immer nur auf und ab gehen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, dann tut es so, als wolle es aussetzen. Umherlaufen darf Ingrid nicht, das stört, also bleibt sie ruhig sitzen und hat viel Zeit zum Nachdenken in dieser Grabesstille. Sie denkt an das glückliche Gefühl bei Ennos Geburt. Sie denkt an viele kleine Erlebnisse mit Enno. Soll dies alles zuende sein? Der Gedanke treibt Ingrid wieder die Tränen in die Augen.

Sie erinnert sich an Ennos sprühende Lebhaftigkeit, sein ständiges Lachen und jetzt fragt sie sich selbst: "Warum?" Warum hat der Arzt nicht reagiert, als sie ihm sagte, Enno verliert mehr Flüssigkeit, als er aufnimmt? Warum hat sie Enno nicht in den Arm genommen und ist ins Krankenhaus gefahren? Ingrid hatte zu diesem Zeitpunkt zwar kein Auto und kein Geld für eine Taxe, doch irgendjemand hätte sich gewiss gefunden, der ihr geholfen hätte. Sie ringt die Hände und wie von selbst falten sie sich zum Gebet. Sie bittet Gott, das Leben ihres Kindes zu verschonen. "Warum willst du ihn, er hat sein Leben noch vor sich? Lass ihn mir, ich verspreche dir alles dafür." Sie weint still in sich hinein. Nur kurze Zeit löst dies den Druck. Sie möchte wissen, was jetzt mit Enno geschieht, möchte auf die Isolierstation rennen, möchte bei Enno sein, möchte seine kleine Hand wie früher vertrauensvoll in ihrer spüren. Doch dies ist unmöglich. Ingrid bleiben nur die Angst und Panik, ihr rasendes Herzklopfen, ihre Tränen. Ingrid weiß, Ennos Leben hängt an einem seidenen Faden und sie muss in der stillen Bibliothek warten.

Während ein Arzt mit seinem Team auf der Isolierstation um das Leben von Enno kämpft, scheint es, als wären ihre Wünsche und Gedanken erhört worden. Das gesamte Krankenhauspersonal nimmt Anteil an Ennos Schicksal. Ingrid wusste nicht, dass das Austrocknen bei kleinen Kindern so rasch geht. Eine sofortige Infusion - einen halben Tag eher - hätte den Flüssigkeitsmangel schnell ausgeglichen. Jeder Kinderkrankenschwester ist dies bekannt. Es verbreitet sich die Empörung darüber wie ein Lauffeuer unter den Krankenschwestern. So findet sich durch den Schichtwechsel oder bei einer anderen Erledigung von der Isolierstation zu anderen Krankenhauseinrichtungen immer wieder eine Krankenschwester wie ein guter Geist, die den Weg zur Bibliothek findet, die Tür öffnet, den Kopf hindurchstreckt und Ingrid zuruft: "Er lebt noch!"

Auch der leitende Klinikprofessor kommt kurz, um Ingrid zu berichten und zu trösten. Die in der Bibliothek Anwesenden heben - bis auf einen - kurz den Kopf, blicken zur Tür, dann zu Ingrid. Aus ihren Augen spricht Anteilnahme und tiefes Verständnis. Die junge Krankenschwester hat ihre Bücher zurückgestellt, tritt still zu Ingrid, nimmt sie schweigend in den Arm und wiegt sie. Nur der ausländische Arzt vor seinen Büchern zeigt als Einziger keine Reaktionen. Die Dramatik um den Kampf, das Leben eines kleinen Kindes zu erhalten, scheint ihn nicht zu erschüttern.

Ingrid ist empört. Wie eine giftgallegrüne Wolke steigt der Zorn in ihr hoch und benebelt ihren Kopf. "Wie kann ein Mensch Kinderarzt werden, wenn ihn das, was allen anderen zu Herzen geht, nicht berührt? Ist es nicht so, dass alle Menschen kleine Kinder lieben? Wenn die Kollegen dieses Arztes mit dem Tod kämpfen und ein Leben retten wollen, all ihr Können aufbieten, wieso reagiert er nicht? Wenn das Klinikpersonal, selbst sein Chef kommt, um über die jeweilige Lage zu berichten, warum lässt es ihn kalt? Warum ist er gerade Kinderarzt geworden, wenn er nicht auch mit psychologischem Spürsinn ausgestattet ist und sehr einfühlsam das Umfeld wahrnehmen will?“

Die in Ingrid brodelnden Gedanken und Gefühle nehmen Überhand. Hass gegen diesen ihr unbekannten Ausländer kommt hoch. Ihr Urteil ist schnell gefällt: „Dieser Mann hat seinen Beruf verfehlt, der sollte sich besser in ein Labor setzen, für die Behandlung von Menschen ist er untauglich.“

Die Stunden vergehen, Ingrid erscheinen sie endlos. Für sie steht die Zeit still. Ihren eigenen Gedanken überlassen, streiten in ihr Hoffnung und Ausweglosigkeit, Zuversicht und Verzweiflung, Glaube und Mutlosigkeit. Sie will stark sein und glaubt doch, sie wird gleich zusammenbrechen. Sie bittet, fleht und hadert mit sich selbst.

Endlich, um die Mittagszeit kommt der leitende Oberarzt persönlich und bringt die ersehnte Nachricht: „Er kommt durch, wir haben es geschafft.“

Eine ganze Woche bleibt Enno noch auf der Isolierstation, dann steht die Diagnose fest. Es war ein unbekannter Virus. Er verursachte den Brechdurchfall. Das führte zur Austrocknung mit stehender Bauchfalte. Das Gehirn wurde nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgt, Gehirnzellen starben ab. Die absolut akute Lebensgefahr ist vorüber, aber keiner der Ärzte kann sagen, wie groß die Schädigung tatsächlich war, das muss die Zeit zeigen.

Nun soll Enno in eine der Kinderstationen verlegt werden. Ingrid befällt eine Ahnung. Hoffentlich nicht die Station, in welcher der so anteilnahmslose Arzt seinen Dienst tut. Ihre Ahnung ist richtig, der Stationsarzt ist der Ausländer aus der Bibliothek. Ingrid möchte schreien: "Nein, diesen Arzt will ich nicht."

Für Ingrid kaum zu fassen, er spricht sie sofort an, hat sich bereits ausführlich informiert und geht mit ihr die nächsten Behandlungsschritte durch. In den vielen Monaten der weiteren Behandlung gestattet er ihr, täglich so lange zu bleiben, wie sie kann. Nur zur Nacht fährt sie in ihre Wohnung. Zu dieser Zeit war eine Übernachtung für Mütter im Krankenhaus noch nicht möglich. Täglich bespricht der Arzt mit Ingrid sehr ausführlich die kleinsten Fortschritte. Er behandelt seinen kleinen Patienten so aufmerksam, fürsorglich und liebevoll, als wäre es sein eigener Sohn. Umsichtig bewahrt er Enno vor weiteren evtl. Folgeschäden und berät mit Ingrid, was zu tun ist, damit Enno wieder sehen und sprechen lernt.

Sein erstes „Mama?“ ist für Ingrid, als wäre er ein zweites Mal geboren. Sie trägt ihn durch die Gänge, bleibt an Fenstern stehen und erzählt ihrem Sohn, was sie sieht. „Schau mal, dort stehen Autos. Da sagt Enno „Opa“. Er hat den Wagen seines Großvaters entdeckt. Nun kann er auch wieder sehen. Eine sehr schwere Schädigung wird nach damaligem Wissensstand jedoch bleiben. Das Bewegungszentrum ist betroffen. das Gehen wird Enno vermutlich nicht wieder lernen. Doch gab es einen Arzt, der sprach von einer neuen Methode. Es war wie ein Strohhalm. Er erwies sich als Balken. Unter ärztlicher Aufsicht übten Ingrid und Enno einzelne krankengymnastische Übungen. So geschah ein weiteres kleines Wunder. Enno kann heute wieder selbständig gehen. Unbenutzte Gehirnzellen hatten die Tätigkeit der zerstörten übernommen.

Möchtest du wissen, wie es Enno und Ingrid heute geht?

Unter der Erkrankung hat Enno noch immer zu leiden. Doch kann er wieder sehen, sprechen, denken und fühlen. Auch das Gehen hat er, mit Einschränkungen, wieder gelernt. Er ist ein ernster Mensch geworden, lebt ohne Hilfe in seiner eigenen Wohnung, hat einen Beruf, Freunde und liebt seinen Computer.

Dem damaligen Hausarzt hat Ingrid mehr als einmal 'die Pest an den Hals' gewünscht. Als Hexe ist sie ungeeignet. Die Pest hat der Doktor nie bekommen. Und was denkt Ingrid heute?

Sie schämt sich noch immer für ihr damals so vorschnelles Urteil. Sie hatte nicht bedacht, dass gerade einfühlsame Menschen einen eigenen Schutzwall brauchen, sonst würden sie sehr schnell die Last der gesamten Welt auf ihren Schultern tragen. Seit dieser Zeit hat Ingrid sich geschworen und es bis zum heutigen Tag gehalten, sie wird für sich keine Vorurteile mehr zulassen sondern sich Zeit nehmen für den so wichtigen zweiten Blick.

Autor: Zwillingsjungfrau

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