Neu hier? Lies hier über unser Motto gemeinsam statt einsam.
Mitglied werden einloggen




Passwort vergessen?

Ingrid und moderne Kunst: eine Kollaboration

Zeit für Ingrid

Grübelnd betrachtete ich die Werke des Künstlers Joseph Beuys, z. B. seine Badewanne oder den Filzanzug, von dem es 100 Duplikate gibt. Für mich war nicht erkennbar, was daran künstlerisch sein sollte. Beuys wird hoch gelobt, wie käme ich dazu, zu monieren, dass scheinbar alltägliche Gebrauchsgegenstände für mich nichts mit Kunst zu tun haben?

Moderne Kunst bzw. Kunst der Gegenwart, wie gern würde ich sie verstehen. Ist es richtig, wenn ich ein orangerotes Rechteck betrachte und nicht weiß, was es sagen will? Darf ich moderner Kunst ratlos gegenüber stehen? Muss ich alles gut finden, was teuer ist oder im Museum hängt? Und vor allem: Darf ich mir ein eigenes Urteil erlauben, jenseits des Marktes, jenseits der Kunstkritiker und der Kuratoren? Wer erklärt mir das Geheimnis der Kunst und beantwortet meine Fragen?

Da auch der Autor Hanno Rauterberg, Redakteur bei der ZEIT, dieses Thema in seinem Buch „Kunst – das gute Leben“ aufgegriffen hatte, wagte ich es und schrieb an die Hamburger Kunsthalle. Nach zwei Stunden hatte ich Antwort. Im Mai 2016 würde die Kunsthalle nach einem aufwendigen Umbau neu eröffnet. Ich konnte zwischen verschiedenen Angeboten wählen, z. B. Vorträge, Seminare, Gruppen- oder privaten Führungen. Da ich bereits im Rollstuhl sitze, entschied ich mich für eine private Führung. Auf meine Buchung für Freitag, den 27. Mai 2016, 13.00 Uhr, erhielt ich die schriftliche Bestätigung. Gestern war der große Tag.

Als Catrin, meine fürsorgliche Begleiterin, und ich an der Kunsthalle ankamen, warteten mehrere hundert Menschen etwa zwei Stunden lang geduldig auf Einlass. An der langen Menschenschlange vorbei fanden wir den Fahrstuhl zum Eingang. An einer separaten Glastür stand ein Mitarbeiter. Er öffnete die Tür nur für uns. In der Halle setzte sich die Schlange an Menschen fort bis zur Kasse. Catrin nahm den Buchungsbeleg und ging damit zum freien Informationsschalter. Sie wurde an die Dame an der Kasse weitergereicht. Catrin bezahlte. Wir wurden gebeten, in Blickweite stehen zu bleiben. Als unser Guide, Frau Claudia Rasztar, kam, wurde sie an uns zwei verwiesen. Sie begrüßte uns, wir besprachen das Thema und meine Fragen.

Um Moderne Kunst bis in unsere heutige Zeit zu verstehen, muss man zu den Anfängen der Malerei zurückgehen. Die Gemälde des Mittelalters einschließlich des Barocks waren Auftragswerke der Oberschicht, der Fürstenhäuser und der Kirche. Der Maler war nicht frei. Er erfüllte die Wünsche seines Geldgebers. Der Öffentlichkeit waren diese Gemälde nicht zugängig. Jede Epoche in der zeitgenössischen Malerei ist also auch die bildliche Darstellung der Zeitgeschichte. Erst durch die Errichtung von Museen, z. B. des Louvre in Paris oder der Hamburger Kunsthalle, wurden die Werke gesammelt und öffentlich gezeigt.

Etwa ab Beginn des 20. Jahrhunderts, geprägt durch die einsetzende Industrialisierung, die Land-Stadt-Wanderungen und den I. Weltkrieg mit seinen Folgen, wurden die Künstler frei von Auftragsarbeit und konnten Gefühle, Ängste aber auch Protest in ihren Bildern zum Ausdruck bringen. Ob dem Betrachter diese Bilder gefielen, wird unterschiedlich beschrieben. Wir Menschen sind verschieden. Wir richten unsere Wohnungen nach unserem eigenen Geschmack ein, wir kleiden uns unterschiedlich. Je nach Mentalität lieben wir es sanft oder aggressiv.

So hatte sich auch die Kunst weiterentwickelt. Nach der zeitgenössischen Kunst entstand als Oberbegriff die Moderne Kunst. Die Maler begannen zu sehen. Während der Zeit des Impressionismus entstanden viele Gemälde unter freiem Himmel. Wichtig waren die wechselnden Farben des Lichts und die Wirkung der Farbe, es war ein sinnliches Sehen.

In den Gemälden des Expressionismus zeigten sich die Gefühle des Künstlers. Durch Reduzierung steigert sich die Ausdruckskraft der Linie. In einem Raum wurden Skulpturen ausgestellt, welche den Übergang von der gegenständlichen Kunst zur Kraft der Linie zeigen. Ich entdeckte ein Mobile aus gesägten Metallplättchen von Alexander Calder. Ich verstand nicht, was der Künstler damit sagen will. Es weckte bei mir Gedankenverbindungen wie Kind, Kinderwagen, Spielzeug. Künstlerisches erkannte ich nicht. Frau Rasztar erklärte es so. Der Künstler will auf die Höhe aufmerksam machen. Bisher waren alle Skulpturen erdgebunden. Sie stehen auf Sockeln. Am Himmel, den Blick nach oben gerichtet, gibt es aber auch einen „Gestaltungs“raum.

Bei der Betrachtung eines Kunstwerkes ist nicht nur das wichtig, was ich sehe und erkenne. Wichtig ist auch, etwas über den Künstler zu wissen. Erst wenn ich die Gedanken und Gefühle des Künstlers kenne, wird mir der Zugang zu diesem Werk möglich. Wenn ich es aber noch immer nicht mag, wenn ich nicht den Wunsch habe, es mehrfach zu betrachten, dann mache ich es absolut richtig. Wer an einem Gemälde achtlos vorbeigeht, versucht gar nicht, das Werk zu verstehen. Deshalb darf sich jeder nicht nur eine eigene Meinung bilden, er soll es sogar. Das gilt auch für die Werke von Beuys. Dazu erzählte uns Frau Rasztar, dass ein Dozent während ihres Studiums zur Kunstwissenschaftlerin erklärte, man könnte ein Kunstwerk erst nach 50 Jahren bewerten. Es wäre also durchaus möglich, dass die Badewanne, der Filzanzug oder andere Werke von Beuys dann anders als heute beurteilt werden.

Zu einigen Werken erklärte uns unsere Guide die Gedanken des Künstlers. Das Bild mit dem Datum bedeutet für den Künstler nicht ein besonderes Ereignis. Er möchte lediglich sagen, am Nov.18.1982 habe ich gelebt und zwar in einem Land (USA), in dem man das Datum so schreibt. Zu dem rot-orangefarbenem Rechteck hatte ich die folgende Frage: Wenn einem Kunstkritiker ein ungerahmtes Stück orangefarbener Leinwand ohne Namensnennung vorgelegt wird, würde er es als Kunst bezeichnen? Frau Rasztar erklärt mir, dass das nie geschieht. Wichtig bei der Bewertung ist also, ob es sich um einen bekannten und anerkannten Maler handelt. Der Kritiker wird zum Helfer für den Künstler.

Der schwarze Punkt in einem Raum, in dem alles viereckig ist, sprach mich stark an. Er war nicht ganz rund und fast an die Decke gerutscht Außerdem sah man auf der linken Seite einige dickere und dünnere Punkte, so, als sei der schwarze Punkt an dieser Stelle ausgelaufen. Auf mich wirkte es, als wollte der schwarze Punkt seine Begrenzung sprengen. Das Kunstwerk sprach mich an, weil auch ich manchmal meine Grenzen sprengen möchte. Diesen Punkt würde ich mir gerne mehrfach ansehen.

Im nächsten Raum wurde Frau Rasztar ärgerlich. Hier war in der Mitte des Fußbodens ein kleiner Berg aus Kohlengries aufgeschüttet in den Röhren hineinführten. Der Künstler Reiner Ruthenbeck wollte damit die Erde symbolisieren, die von den Menschen ausgehöhlt wird. Ein Besucher hatte einige Stückchen aufgenommen und achtlos wieder auf den Boden geworfen. Auch wenn man nicht alle Werke versteht, so ist es schlichtweg ungezogen, das Werk eines Künstlers zu berühren oder zu verändern.

Wir waren uns einig. Die hier ausgestellten Werke der Gegenwart sind nach einem stark empfundenen Entwicklungsprozess des Malers oder Bildhauers entstanden und sollten mit Respekt behandelt werden. Das empfinden aber wohl nicht alle Menschen so. Frau Rasztar erzählte die, je nach Betrachtungsweise heitere oder traurige, Entstehungsgeschichte eines Eisstiels in einer Glasvitrine. Das Kaufhaus Alsterhaus bat einen Professor der Kunstakademie, er solle bitte ein Kunstwerk in einem Schaufenster ausstellen. Das Alsterhaus versprach sich davon eine besondere Art von Werbung. Der Professor sagte zu. Den ersten Gegenstand, den er bei einem Rundgang durch das Haus auf dem Boden findet, würde er für ein Kunstwerk verwenden. Es war ein Eisstiel. Zwei Tage lang war der Eisstiel im Fenster zu sehen, dann wurde das Schaufenster umdekoriert.

Frau Rasztar spreche ich meinen Dank aus. Mit großem Fachwissen erklärte sie Zusammenhänge. Dabei ging sie oft vor mir in die Hocke, um mir in gleicher Höhe in die Augen zu sehen. Ich lernte viel hinzu, sehe jetzt vieles mit anderen Augen, muss mich aber auch nicht schämen, wenn mir ein hoch gelobtes Werk nicht gefällt. Dies ist auch das Ziel der Kunsthalle. Sie will ein Ort des Lernens, der Auseinandersetzung und des Dialogs sein zwischen dem Künstler und dem Betrachter oder zwischen den Besuchern und dem Guide. Manches bleibt aber auch das Geheimnis des Künstlers und das ist gut so, denn es sind seine Gefühle und deshalb sein Werk.

Diese private Führung war eine Bereicherung.

Autor: Zwillingsjungfrau

Artikel Teilen

 

Artikel bewerten
4 Sterne (29 Bewertungen)

Nutze die Sterne, um eine Bewertung abzugeben:


9 9 Artikel kommentieren
Themen > Unterhaltung > Kolumnen, Anekdoten und Co > Zeit für Ingrid > Ingrid und moderne Kunst: eine Kollaboration