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Endlose Minuten

Er stand mitten zwischen den vielen Menschen, die an der Haltestelle warteten und sich dann in einen ankommenden Bus drängten. Alle mit der gewohnten Hektik. Und da lag sie plötzlich in ihrer ganzen Länge, mit hochrotem Kopf. Jemand hatte sie achtlos hingeworfen. Und just in dem Augenblick trafen sich unsere Blicke. Er hatte blaue Augen - das heißt, nur eines war blau, das andere leblos und weißgrau überzogen. Unwillkürlich musste ich an einen gekochten Fisch denken. Aber in dem lebendigen Auge war außer Erstaunen noch etwas anderes, das sich nicht deuten ließ.

Der Bus war weg. Jetzt waren nur noch wir da, ich, der mit dem leblosen Auge und sie, die da immer noch am Boden lag. Ich ging ein paar Schritte näher. Von ihr konnte ich nur etwas Weißes sehen, weil er mir die Sicht nahm. Dann betrachtete ich ihn, der so unentschlossen dastand. Dunkle Haarsträhnen kräuselten sich über das blasse jungenhafte Gesicht und den weißen dünnen Hals. Etwas beigefarbenes kam unter einer schwarz glänzenden Jacke aus Lederimitat hervor, und eine schwarze ausgefranste Jeans schloss sich an. Er trug braune Socken zu schwarzen, sehr alten Sandalen, und auf dem Rücken ein rucksackähnliches Behältnis. Ich wusste ihn nicht so recht einzuordnen. Sein Verhalten war sehr merkwürdig. Die Art wie er vor ihr stand und dabei ständig zu mir rüber schaute, ließ ahnen, dass er versucht war, sich nach ihr zu bücken, sich aber nicht traute, solange ich mich in der Nähe befand. Immer wieder begegneten sich unsere Blicke, und, obwohl das grauweiße Auge sich nicht bewegte, schien es mich ständig zu fixieren. Dann wusste ich es, er ist ein Stadtstreicher! Zwar noch ein Greenhorn, doch seine Zukunft schien besiegelt zu sein. Und was ich zu Anfang in seinem blauen Auge nicht zu deuten wusste, das war nichts anderes als Befriedigung darüber, dass das Schicksal sie, die da am Boden lag, vor seine Füße landen ließ. Seine Gedanken schienen nur um sie zu kreisen, doch fehlte ihm die Courage für die letzte Notwendigkeit.

Sein Zögern forderte mich heraus, abzuwarten. Ich wollte wissen, wie er sich wohl weiter verhalten würde und schaute in eine andere Richtung. Er sollte das Gefühl haben, unbeobachtet zu sein. Doch ich tat es so, dass ich seine Bewegungen aus dem linken Augenwinkel verfolgen konnte. Es kam jetzt nur darauf an, wer von uns den längeren Atem hatte.

Sicher fieberte er genauso den Augenblick entgegen, sich nach ihr bücken zu können, wie ich mir wünschte, dass er es auch tun würde, bevor mein Bus käme.

Ich wurde ungeduldig, wollte aufgeben. Als ich mich zu ihm umdrehte, befand er sich gerade in gebückter Haltung, endlich entschlossen zur letzten Konsequenz. Sein blaues Augen wie ein ertappter Dieb auf mich gerichtet, hob er sie endlich auf, eilte in den Park, hielt sie fest zwischen seinen Lippen und zog gierig den Rauch tief in seine Lungen.

Autor: Rosewittchen

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