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Etti hat das Wort: Die heimliche süße Versuchung

Mein Irrtum bestand wohl darin, damals geglaubt zu haben, mein Geheimnis wäre lediglich nur eine Geschmacksache, obwohl meine innere Stimme etwas anderes sagte.
Daran erinnerte ich mich wieder, als ich im Keller nach der Dekoration für den Geburtstagstisch suchte und in einem verstaubten Karton eine Bluse fand, die mir irgend wann mal Schwiegermama zusammen mit einem petrolfarbenen Kostüm, einem passenden Hut und Spitzenhandschuhen verordnet hatte. Sie war der Meinung, all dies gehöre zu einer richtigen Dame. Schwiegermama glaubte immer zu wissen, was für mich gut war.
Obwohl ich das Kostüm nach einer Zeit zähneknirschend liebgewonnen hatte, natürlich nur wegen Schwiegermama, trennte ich mich von ihm. Es war mir zu aufdringlich geworden, schmiegte sich an, als wolle es mich erdrücken. Schwiegermama war sichtlich verstimmt, und meine innere Stimme sagte: "Ich habe dich gewarnt. Du solltest...!" Aber wollte ich? Inzwischen wusste ich selbst was für mich gut war.

Die Bluse, die wegen der kostbaren Spitze zur Wiederverarbeitung in den Keller gewandert war, lag nun vor mir, und es drängte mich, sie anzuziehen. Das Vorderteil reichte im Umfang nur von einer Brustwarze zur anderen und die Armlöcher der ärmellosen Bluse umspannten meine Oberarme wie Schraubstöcke. Jede Bewegung schmerzte. Mit diesem fatalen Ergebnis hatte ich wirklich nicht gerechnet! Da stand ich nun mit ausgestreckten Armen vor Paul und sagte lachend: "Kannst du dir vorstellen, dass ich da einmal rein gepasst habe?" Paul grinste und meinte, ich sei jetzt eine doppelte Existenz. Zwar gemein, aber wo er Recht hat, hat er Recht. Bestimmt wären seine Blicke vernichtend gewesen, wenn er für diese Verdoppelung die Ursache gekannt hätte, die ich, so gut es ging für mich behalten hatte.
Aber die doppelte Existenz will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Ich komme nun nicht mehr am Garderobenspiegel vorbei, ohne mich ständig zu betrachten. Da sind diese kleinen Schwellen um Augen, Mund und Wangen, die an eine verkehrsberuhigte Straße erinnern. Immer wieder versuche ich mit den Daumen rechts und links der Wangen die Haut etwas zu den Ohren hin zu straffen - sozusagen nach dem Jugendantlitz zu forschen. - Eine vage Erinnerung ist da schon noch. Aber der Lack ist nun mal ab. Was soll’s? Schönheit und Weisheit gesellen sich eben nur selten. Ich werde mich eben nur mit der Weisheit begnügen müssen. Schließlich kann man nicht alles haben.
Dafür aber schwimme ich jetzt, wie es irgendwo geschrieben stand, auf der sogenannten zweiten Leistungswelle. Sollen die schönsten Jahre des Lebens sein. Ha, ha! Abwarten! Irgendwo und irgendwann wird sich diese Leistungswelle ja bemerkbar machen. Irgendwo...? O Gott!
"Madame haben ja schon wieder zugelegt!" Warum gehen die Pfunde auch nur statt in die Breite nicht in die Länge? Und warum nur wird im Alter die Körperkraft weniger, während die Pfunde mehr werden? Was mein weitgeschnittenes Kleid nun wieder ausfüllt, beunruhigt mich jetzt doch ein wenig. Auch meine Taschen werden immer größer, sind mit den Jahren genauso gewachsen wie der Stoffverbrauch für meine Kleider. Was schleppe ich auch alles mit mir herum? Zellstoffartikel, Faltencreme, Puderdose, Pillchen für den Kreislauf, gegen Kopfschmerzen, Herztropfen, ich weiß nicht, was noch alles. Die neue Tasche zeigt auch schon wieder Beulen. Aber - gerade wollte ich sagen, besser die Tasche als ich. Doch der Blick in den Spiegel gebietet mir zu schweigen. Was ist denn geworden aus der weich fließenden Linie meines erst kürzlich neu erworbenen Kleides, unter dem sich alles so toll verbergen ließ? Nun muss ich ja schon wieder die Garderobe erneuern! - Vielleicht sollte ich doch nicht mehr - oder wenigstens weniger...?
Hat Paul nicht neulich gesagt, rundliche Frauen wären gemütlich, gutmütig und warmherzig? Dann mag er doch pummelige Frauen! Und wenn Paul pummelige Frauen mag, warum sollte ich da nicht mein Geheimnis lüften und ihm endlich sagen, dass es die Champagnertrüffeln sind, die mich immer pummeliger werden lassen. Dann wäre endlich Schluss mit den Heimlichkeiten, und ich könnte ohne schlechtes Gewissen und in aller Ruhe meine geliebten Trüffeln weiter essen. Aber was wäre, wenn Paul doch anders dächte und ich am Ende womöglich verzichten sollte? Was bliebe mir dann noch ohne diese braunen, schmalzigen, in Zucker gehüllten Köstlichkeiten? Sie sind es doch, die all meine geheimen Sehnsüchte überwinden helfen. Sie sind es, die mir Freude am Leben und die Kraft dazu geben, wo doch Kraft und Freude im Alter ohnehin mehr und mehr nachlassen...
Zum Glück gilt das ja nicht für die innere Kraft, der ich mir längst bewusst werden durfte. Sie ist einfach ein Gottesgeschenk, diese innere Kraft! - Nur sollte sie nicht unbedingt alles so stark nach außen drücken... Aber da ich nun mal für mein Leben gern Champagnertrüffeln esse, beschließe ich jetzt kraft meines Alters, mein Geheimnis weiterhin zu wahren, die genüssliche Versuchung niemals aufzugeben und meinem Anblick im Spiegel einfach mit Humor zu begegnen...
Hallo, liebe Leidens- Genossinnen, ist es nicht viel wichtiger, glücklich und zufrieden, statt schlank zu sein? Außerdem, pummelig ist wieder gefragt

Autor: Rosewittchen

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