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Erwachsenwerden in Venedig

Sanft schaukelnde Gondeln auf schmalen Kanälen, prachtvolle Bauten unter einem azurblauen Himmel, von dem die Sonne strahlend lacht. Bei meinem ersten Besuch in der Lagunenstadt bin ich fünfzehn Jahre alt. Zusammen mit meinen Eltern bummele ich durch malerische Gassen und wundere mich über die vielen Katzen, die überall anzutreffen sind. Unweit des Markusplatzes, am Canale Grande, sitzen mehrere in einem Garten. Plötzlich zwängen sie sich durch die Gitterabsperrung. Kurz darauf erscheint ein junger Mann. Er zerteilt ein Papier, legt es an verschiedenen Stellen aus, häuft Futter darauf und wartet, bis seine Schützlinge sich satt gefressen haben und schnurrend um seine Hosenbeine streichen. Er krault sie, sammelt anschließend die Papierchen ein, wirft sie in einen Müllereimer und geht. Ich locke die Katzen, aber von mir lassen sie sich weder anfassen, noch streicheln.

Auch an der Accademia-Brücke sind Katzen, ebenfalls gut genährt. Nur eine sieht krank und traurig aus. Sie ist pechschwarz, bis auf einen silbrig glänzenden Ring, der wie ein helles Armband um ihr rechtes Vorderbein liegt. Das Fell der Katze weist kahle Stellen auf, die sich entzündet haben. Mager hockt das Tierchen, von den Artgenossen gemieden und verstoßen, abseits und miaut kläglich. Sie tut mir unendlich leid, die Katze, die mir beim Näherkommen scheu ausweicht.

Abends gehe ich allein zum Futterplatz und warte auf das Erscheinen des Katzenfreundes. Endlich kommt er. Ich weise den Canale Grande hinauf. „Accademia, Miau, malato“, sage ich und will ihm damit die Kleine zur Pflege empfehlen. Der Mann sieht mich verständnislos an und geht fort. Vielleicht versorgt er auch die Katzen bei der Accademia-Brücke, wird auf die kranke aufmerksam und kümmert sich um sie? Ich folge ihm, verliere ihn aber zwischen all den Menschen im Gewirr der Gassen aus den Augen. Als ich zur Accademia-Brücke komme, sitzen die Katzen dort und putzen ihr Fell. Anscheinend haben sie gerade gut gespeist. Abseits hockt wieder die kleine Kranke. Mir bricht fast das Herz vor Kummer. Am liebsten würde ich das Tierchen ins Hotel mitnehmen, was natürlich unmöglich ist.

In der darauf folgenden Nacht träume ich von Venedig. Jetzt sieht die Stadt mittelalterlich aus, wie aus längst vergangenen Zeiten. Mich umringt eine Schar von Katzen. Plötzlich richten sie sich auf, wachsen, werfen ihr Fell ab, verwandeln sich in junge Edelmänner, bekleidet mit kostbaren Roben. Sie steigen in ihre Gondeln, nehmen mich mit und fahren singend über den Canale Grande. Am Dogenpalast gehen wir alle zusammen an Land. Über die Lagune gleitet ein großes Schiff heran. Es bleibt außerhalb liegen; ein Boot wird ins Wasser gelassen, in dem ein junger Mann aufrecht steht. Ein Raunen geht durch die Menschenmenge. „Sechs Monate war Marco fort, auf Weltreise. Jetzt kommt er zurück aus fernen Ländern.“ Das Boot nähert sich. Jetzt erkenne ich das Gesicht des jungen Mannes. Es ist der Katzenfütterer. Er springt an Land und wird von den jungen Edelleuten mit viel Hallo begrüßt. Zwei seiner Begleiter tragen eine riesige Kiste. „Was hast du uns mitgebracht, Marco“, rufen die jungen Männer. Die Begleiter setzen die Kiste ab und lachend packt Marco aus.
„Hier ein Geschenk für dich, Alfredo.“ Er reicht dem Angesprochenen einen Ballen Seide.
„Carlo, dir habe ich eine Goldmünze aus dem fremden Land Indien als Andenken mitgebracht.“
„Für dich, Rodrigo, duftende Wasser, hergestellt aus fremden Blumen, Gewürzen und Hölzern.“ Es herrscht Jubel, Lachen, Freude.
„Paolo, Paolo, wo bist du”, ruft Marco. Plötzlich verstummen alle. Eine schwarz verhüllte Gestalt tritt vor. „Ich habe einem Wunderheiler in dem fremden Land von deiner Krankheit erzählt. Er hat mir eine Salbe mitgegeben, die dir, wie er mir versichert hat, gewiss helfen wird.“ Marco reicht dem Schwarzgekleideten einen Tiegel mit Salbe, umarmt ihn. Dabei fällt die Kapuze vom Kopf des Verhüllten man sieht die kahlen Stellen von büschelweise ausgefallenen Haaren, die Kopfhaut bedeckt mit eitrigen Geschwüren.
„Du hast uns alle beschenkt“, sagt Paolo, „hier nimm dies von mir als Dank.“ Er streift einen hellen, silbrig glänzenden Armreifen von seinem rechten Handgelenk und reicht ihn Marco, der sich lachend bedankt. „Du wirst geheilt, Paolo, ich weiß es genau. Ich sah elende, schlimm Erkrankte, die nach mehrmaligem Auftragen eine glatte rosige Haut wie ein neugeborenes Baby hatten.“ „Danke, mein Freund. Selbst wenn ich nicht geheilt werde, du hast in dem fremden Land an mich gedacht; es tut gut das zu wissen.“ „Die Salbe wird dir helfen, ganz gewiss.“
Paolo zuckt zweifelnd mit den Schultern und verschwindet in der Menschenmenge. Marco hebt seinen rechten Arm, an dem nunmehr das Armband glänzt und winkt ihm hinterher.

Am nächsten Tag, während meine Eltern ein Museum besuchen, laufe ich wieder zur Accademia-Brücke. Mich interessiert weit mehr die kleine Katze, als wertvolle Gemälde alter Meister. Das kranke Tierchen ist nicht zu sehen. Nur eine schwarze Katze mit glänzendem Fell und ohne hellen Ring an der Vorderpfote liegt wohlig schnurrend in der Sonne. Ist es die kranke vom Vortag, nunmehr geheilt durch die Salbe, für die sie Marco ihren Armreifen geschenkt hat?

Am Abend gehe ich zu der Futterstelle am Canale Grande. Da kommt der Katzenfreund. Ja, es ist Marco, dessen Gesicht ich in meinem Traum gesehen habe. Als der Ärmel seines Pullovers etwas verrutscht, sehe ich an seinem Handgelenk einen silbrig glänzenden Armreifen. Am liebsten würde ich laut jubeln. Beschwingt laufe ich zurück zum Hotel.

In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Den Traum für Wirklichkeit zu halten, halte ich jetzt für einen billigen Trost. Natürlich ist die Katze mit dem gesunden Fell eine ganz andere als die kleine kranke, die jetzt vermutlich tot irgendwo in einem alten Gemäuer oder unter der Brücke liegt. Wahrscheinlich trug der junge Mann schon gestern das silbrig glänzende Armband und nur darum habe ich es im Traum an seinem Handgelenk gesehen. Mir wird klar, die Katze ist nicht geheilt, die Wundersalbe gibt es gar nicht.

Ich fühle mich todunglücklich. Die versumpften, unheimlich wirkenden Kanäle stinken, die Gondoliere mit ihrem ewigen „O sole mio“-Gesang nerven, in den dunklen engen Gassen sieht man kaum ein Fleckchen Himmel. Es gibt bedrückend viele halbverfallene, armselige Behausungen. Venedig hat seinen Zauber verloren durch eine kleine kranke Katze. Sah ich vorher die schöne, reiche, prächtige Stadt mit großen Palästen entlang des Canale Grande, scheint Venedig jetzt nur noch aus Verfall, Fäulnis, Unangenehmen, Unheimlichem zu bestehen.

An den folgenden Tagen besuche ich mit meinen Eltern wieder Kirchen und Museen, schaue Bilder ohne rechtes Interesse an, wandere durch Gassen, esse Spaghetti oder Pizza und Eis, kümmere mich nicht mehr um die Katzen. Es tut zu weh.

Am letzten Ferientag fahren wir unter der Brücke Accademia über den Canale Grande zum Bahnhof Sancta Lucia. Jetzt sehe ich Venedig wie es wirklich ist: Prächtig und verfallen unter einem blauen Himmel mit dunklen Gewitterwolken am Horizont. Hier gibt es, wie überall, Freude und Trauer, Lachen und Weinen, Gesunde und Kranke, Reiche und Arme. Ich versuche nicht mehr, das Unangenehme, Bedrückende, durch schöne Träume zu verdrängen, sondern akzeptiere es nun als Teil des Lebens. Durch eine kleine Katze bin ich in Venedig erwachsen geworden.

Autor: Niagara

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